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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Vor Untergang der antiken lockt

trankheiten tötlich verlaufen, wenn für die überschüssigen Säfte nicht Raum
geschafft wird.

Im römischen Reiche trat der Umschwung in den Tagen Mark Aurels
ein. der auch germanische Ansiedler ins Reich ließ, nachdem die Lücken des
Heeres schon längst mit Barbaren ausgefüllt worden waren. secat zeigt, wie
sich von da ab das Heer wie das Reich immer mehr barbarisirte. Nun
nahm die Bevölkerung wieder zu, und das Getreide schlug auf. Die Sitten
wurden barbarisch; raffinirte Laster hörten auf, dafür nahmen Wildheit und
Grausamkeit überhand. Nicht das Christentum hat die Umwandlung vollbracht
-- es wirkte ja, wie wir gesehen haben, der Hauptsache nach in derselben
Richtung wie die römische Kultur, und die zunehmende Wildheit stand zu
seinein Geiste im Widerspruch --, sondern das Barbarentum; die christliche
Kirche hat diesem, abgesehen von den religiösen Einwirkungen, die immer ans
einen engen Kreis beschränkt bleiben, nur den Dienst erwiesen, ihm das Wesent¬
liche der griechisch-römischen Kultur zu bewahren und zu vermitteln.

Zum Schluß noch eins. Bei den Nationen des Südens, schreibt secat
S. 289, ging unter, wer sich dem Willen der Gesamtheit nicht fügte; bei den
Germanen hatte der die meiste Aussicht auf Rettung, der anch auf eigne Faust
den Feind abzuwehren oder sich der Übermacht auf Schleichwegen zu entziehen
verstand. So entwickelte sich bei jenen die Unterordnung des Einzelnen unter
das Ganze, d. h. die staatenbildende Kraft; bei diesen gelangte die freie In¬
dividualität zu eiuer so energischen Ausbildung, daß sie jedes staatliche Band
zersprengte. Trotz ihrer großen Begabung hatten sie sich nicht zu einer
höhern Kultur erhoben, weil diese aus dem geordneten Zusammenwirken vieler
hervorgehen muß und ihre wilde Kraft sich keiner Ordnung fügen wollte.
Diese ungezügelte Behauptung seiner persönlichen Eigenart war zum beherr¬
schenden Zuge im Nationalcharakter der Deutschen geworden, wie er es in
gemilderter Weise noch heute ist, und in den Edelsten des Volks kam er zur
reinsten Ausprägung. Diese mußten also fallen, die jüngern Generationen
mußten etwas von jener überschäumenden Kraft ihrer Väter verlieren, damit
sie zahmer würden und sich dem Verbände eines geordneten Staatswesens ein¬
fügen lernten. Die Ausrottung der Besten, die jenen schwächern Völkern die
Vernichtung brachte, hat die starken Germanen erst befähigt, auf den Trüm¬
mern der antiken Welt neue, dauernde Gemeinschaften zu errichten.

Diese Reihe vollkommen wahrer Gedanken bedarf nur noch der Er¬
gänzung durch den Schlußgedanken, daß dieselbe Fähigkeit der Unter¬
ordnung, die die Staaten bildet, sie zuletzt auch zerstören muß, und daß die
Staaten des Altertums an nichts anderm gestorben sind, als an ihrer eignen
staatenbildenden Kraft; denn die vollendete Fähigkeit der Unterordnung ist ja
gar nichts andres als jene Unselbständigkeit und Feigheit, jene Bedienten-
und Sklavenart, die nach secat den Charakter des Nömervolks in der Kaiser-


Vor Untergang der antiken lockt

trankheiten tötlich verlaufen, wenn für die überschüssigen Säfte nicht Raum
geschafft wird.

Im römischen Reiche trat der Umschwung in den Tagen Mark Aurels
ein. der auch germanische Ansiedler ins Reich ließ, nachdem die Lücken des
Heeres schon längst mit Barbaren ausgefüllt worden waren. secat zeigt, wie
sich von da ab das Heer wie das Reich immer mehr barbarisirte. Nun
nahm die Bevölkerung wieder zu, und das Getreide schlug auf. Die Sitten
wurden barbarisch; raffinirte Laster hörten auf, dafür nahmen Wildheit und
Grausamkeit überhand. Nicht das Christentum hat die Umwandlung vollbracht
— es wirkte ja, wie wir gesehen haben, der Hauptsache nach in derselben
Richtung wie die römische Kultur, und die zunehmende Wildheit stand zu
seinein Geiste im Widerspruch —, sondern das Barbarentum; die christliche
Kirche hat diesem, abgesehen von den religiösen Einwirkungen, die immer ans
einen engen Kreis beschränkt bleiben, nur den Dienst erwiesen, ihm das Wesent¬
liche der griechisch-römischen Kultur zu bewahren und zu vermitteln.

Zum Schluß noch eins. Bei den Nationen des Südens, schreibt secat
S. 289, ging unter, wer sich dem Willen der Gesamtheit nicht fügte; bei den
Germanen hatte der die meiste Aussicht auf Rettung, der anch auf eigne Faust
den Feind abzuwehren oder sich der Übermacht auf Schleichwegen zu entziehen
verstand. So entwickelte sich bei jenen die Unterordnung des Einzelnen unter
das Ganze, d. h. die staatenbildende Kraft; bei diesen gelangte die freie In¬
dividualität zu eiuer so energischen Ausbildung, daß sie jedes staatliche Band
zersprengte. Trotz ihrer großen Begabung hatten sie sich nicht zu einer
höhern Kultur erhoben, weil diese aus dem geordneten Zusammenwirken vieler
hervorgehen muß und ihre wilde Kraft sich keiner Ordnung fügen wollte.
Diese ungezügelte Behauptung seiner persönlichen Eigenart war zum beherr¬
schenden Zuge im Nationalcharakter der Deutschen geworden, wie er es in
gemilderter Weise noch heute ist, und in den Edelsten des Volks kam er zur
reinsten Ausprägung. Diese mußten also fallen, die jüngern Generationen
mußten etwas von jener überschäumenden Kraft ihrer Väter verlieren, damit
sie zahmer würden und sich dem Verbände eines geordneten Staatswesens ein¬
fügen lernten. Die Ausrottung der Besten, die jenen schwächern Völkern die
Vernichtung brachte, hat die starken Germanen erst befähigt, auf den Trüm¬
mern der antiken Welt neue, dauernde Gemeinschaften zu errichten.

Diese Reihe vollkommen wahrer Gedanken bedarf nur noch der Er¬
gänzung durch den Schlußgedanken, daß dieselbe Fähigkeit der Unter¬
ordnung, die die Staaten bildet, sie zuletzt auch zerstören muß, und daß die
Staaten des Altertums an nichts anderm gestorben sind, als an ihrer eignen
staatenbildenden Kraft; denn die vollendete Fähigkeit der Unterordnung ist ja
gar nichts andres als jene Unselbständigkeit und Feigheit, jene Bedienten-
und Sklavenart, die nach secat den Charakter des Nömervolks in der Kaiser-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/240>, abgerufen am 22.11.2024.