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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

finden. Auch eine Verbindung mit den andern Staaten wäre zu erreichen.
Deutschland hat für sich selbst die Zölle, die Eisenbahnen und die Tarife, die
Bestimmung der Qualität durch Gesetz in der Hand. Man verwende den
"freien Vertrag," wie ihn Rockefeller immer verstanden hat. Das Rezept ist
ganz einfach. Man läßt dem andern die Hände auf den Rücken binden und
ihn an einem Baumast den Kopf nach unten so aufhängen, daß die Haare in
einen Ameisenhaufen reichen; darauf unsere mau sich nach einiger Zeit mit
weltmännischen Formen und fordert ruhig, aber bestimmt, von fünf zu fünf
Minnten das Doppelte fürs Abschneiden.




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
9. Ein idyllisches Ruheplätzchen (Schluß)

0 also stand es um die Wirtschaftlichkeit und Mäßigkeit und um
die Ehe. Was den Diebstahl anlangt, so huldigte man in Be¬
ziehung auf Feld- und Gartendiebstühle der laxesten Auffassung.
Als es im Frühjahr an die Bestellung des Gärtchens gehen sollte
-- wir hatten 1872 einen wundervollen Frühling, schon der ganze
März war gleichmäßig warm und sonnig --, da beschlossen wir,
n. a. auch Gurken und Zwiebeln anzubauen. Gurken verstanden sich von selbst;
Zwiebeln aber, sagte meine Mutter, sind beim Händler sehr teuer; geraten
sie, dachte ich, so baut man im nächsten Jahre mehr an und immer mehr --
und ich kalkulirte ganz wie ?srreÄs, sur sg, Ms g^eine un xot M 1-ut. --
Gurken und Zwiebeln? sagte der Kantor kopfschüttelnd, die dürfen sie nicht
bauen, die stehlen sie Ihnen. -- I das wäre der Kuckuck! Wir leben doch
wohl hier in einem zivilisirten Staate! -- Na, Sie Werdens ja sehen.

Die Gurken gediehen nur mäßig, und obwohl uns die Gartendiebe einige
übrig ließen, beschlossen wir doch, in Zukunft darauf zu verzichten. Aber die
Zwiebeln waren unser Stolz; so kolossale Zwiebeln, sagte meine Mutter, giebts
gar nicht mehr in der Welt. Sie steckten nämlich noch im Boden. Aber
heute, sagte die Mutter eines Nachmittags, müssen sie herausgenommen werden;
jetzt werden sie kaum noch wachsen; was meinen Sie. Herr Menzel? Der
kam nämlich gerade zum Gartenthürchen herein. Menzel war eine sehr wichtige
Persönlichkeit. Ein weißhaariger Mann mit rotem Gesicht und einer blauen
Jacke. " Er hatte Haus und Garten und tagelöhnerte in den Stunden, die ihm
seine Ämter frei ließen. Zunächst war er Botenmann und holte aus Löwen-
berg und Schönau allerlei schöne Sachen, wie Bücher aus der "Vibleivptheke"
für die Gouvernante auf dem Oberhofe und den "Speiseputz" (Kopfputz) sür
die Frau Kantern, wenn sie zur Hochzeit oder zum Kindtaufen geladen° war.
Mir brachte er aus Löwenberg einmal im Jahre die Wachskerzen mit und
außerdem jeden Montag ein ideales Gut, woran er nicht schwer zu tragen


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

finden. Auch eine Verbindung mit den andern Staaten wäre zu erreichen.
Deutschland hat für sich selbst die Zölle, die Eisenbahnen und die Tarife, die
Bestimmung der Qualität durch Gesetz in der Hand. Man verwende den
„freien Vertrag," wie ihn Rockefeller immer verstanden hat. Das Rezept ist
ganz einfach. Man läßt dem andern die Hände auf den Rücken binden und
ihn an einem Baumast den Kopf nach unten so aufhängen, daß die Haare in
einen Ameisenhaufen reichen; darauf unsere mau sich nach einiger Zeit mit
weltmännischen Formen und fordert ruhig, aber bestimmt, von fünf zu fünf
Minnten das Doppelte fürs Abschneiden.




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
9. Ein idyllisches Ruheplätzchen (Schluß)

0 also stand es um die Wirtschaftlichkeit und Mäßigkeit und um
die Ehe. Was den Diebstahl anlangt, so huldigte man in Be¬
ziehung auf Feld- und Gartendiebstühle der laxesten Auffassung.
Als es im Frühjahr an die Bestellung des Gärtchens gehen sollte
— wir hatten 1872 einen wundervollen Frühling, schon der ganze
März war gleichmäßig warm und sonnig —, da beschlossen wir,
n. a. auch Gurken und Zwiebeln anzubauen. Gurken verstanden sich von selbst;
Zwiebeln aber, sagte meine Mutter, sind beim Händler sehr teuer; geraten
sie, dachte ich, so baut man im nächsten Jahre mehr an und immer mehr —
und ich kalkulirte ganz wie ?srreÄs, sur sg, Ms g^eine un xot M 1-ut. —
Gurken und Zwiebeln? sagte der Kantor kopfschüttelnd, die dürfen sie nicht
bauen, die stehlen sie Ihnen. — I das wäre der Kuckuck! Wir leben doch
wohl hier in einem zivilisirten Staate! — Na, Sie Werdens ja sehen.

Die Gurken gediehen nur mäßig, und obwohl uns die Gartendiebe einige
übrig ließen, beschlossen wir doch, in Zukunft darauf zu verzichten. Aber die
Zwiebeln waren unser Stolz; so kolossale Zwiebeln, sagte meine Mutter, giebts
gar nicht mehr in der Welt. Sie steckten nämlich noch im Boden. Aber
heute, sagte die Mutter eines Nachmittags, müssen sie herausgenommen werden;
jetzt werden sie kaum noch wachsen; was meinen Sie. Herr Menzel? Der
kam nämlich gerade zum Gartenthürchen herein. Menzel war eine sehr wichtige
Persönlichkeit. Ein weißhaariger Mann mit rotem Gesicht und einer blauen
Jacke. „ Er hatte Haus und Garten und tagelöhnerte in den Stunden, die ihm
seine Ämter frei ließen. Zunächst war er Botenmann und holte aus Löwen-
berg und Schönau allerlei schöne Sachen, wie Bücher aus der „Vibleivptheke"
für die Gouvernante auf dem Oberhofe und den „Speiseputz" (Kopfputz) sür
die Frau Kantern, wenn sie zur Hochzeit oder zum Kindtaufen geladen° war.
Mir brachte er aus Löwenberg einmal im Jahre die Wachskerzen mit und
außerdem jeden Montag ein ideales Gut, woran er nicht schwer zu tragen


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[0633] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome finden. Auch eine Verbindung mit den andern Staaten wäre zu erreichen. Deutschland hat für sich selbst die Zölle, die Eisenbahnen und die Tarife, die Bestimmung der Qualität durch Gesetz in der Hand. Man verwende den „freien Vertrag," wie ihn Rockefeller immer verstanden hat. Das Rezept ist ganz einfach. Man läßt dem andern die Hände auf den Rücken binden und ihn an einem Baumast den Kopf nach unten so aufhängen, daß die Haare in einen Ameisenhaufen reichen; darauf unsere mau sich nach einiger Zeit mit weltmännischen Formen und fordert ruhig, aber bestimmt, von fünf zu fünf Minnten das Doppelte fürs Abschneiden. Wandlungen des Ich im Zeitenstrome 9. Ein idyllisches Ruheplätzchen (Schluß) 0 also stand es um die Wirtschaftlichkeit und Mäßigkeit und um die Ehe. Was den Diebstahl anlangt, so huldigte man in Be¬ ziehung auf Feld- und Gartendiebstühle der laxesten Auffassung. Als es im Frühjahr an die Bestellung des Gärtchens gehen sollte — wir hatten 1872 einen wundervollen Frühling, schon der ganze März war gleichmäßig warm und sonnig —, da beschlossen wir, n. a. auch Gurken und Zwiebeln anzubauen. Gurken verstanden sich von selbst; Zwiebeln aber, sagte meine Mutter, sind beim Händler sehr teuer; geraten sie, dachte ich, so baut man im nächsten Jahre mehr an und immer mehr — und ich kalkulirte ganz wie ?srreÄs, sur sg, Ms g^eine un xot M 1-ut. — Gurken und Zwiebeln? sagte der Kantor kopfschüttelnd, die dürfen sie nicht bauen, die stehlen sie Ihnen. — I das wäre der Kuckuck! Wir leben doch wohl hier in einem zivilisirten Staate! — Na, Sie Werdens ja sehen. Die Gurken gediehen nur mäßig, und obwohl uns die Gartendiebe einige übrig ließen, beschlossen wir doch, in Zukunft darauf zu verzichten. Aber die Zwiebeln waren unser Stolz; so kolossale Zwiebeln, sagte meine Mutter, giebts gar nicht mehr in der Welt. Sie steckten nämlich noch im Boden. Aber heute, sagte die Mutter eines Nachmittags, müssen sie herausgenommen werden; jetzt werden sie kaum noch wachsen; was meinen Sie. Herr Menzel? Der kam nämlich gerade zum Gartenthürchen herein. Menzel war eine sehr wichtige Persönlichkeit. Ein weißhaariger Mann mit rotem Gesicht und einer blauen Jacke. „ Er hatte Haus und Garten und tagelöhnerte in den Stunden, die ihm seine Ämter frei ließen. Zunächst war er Botenmann und holte aus Löwen- berg und Schönau allerlei schöne Sachen, wie Bücher aus der „Vibleivptheke" für die Gouvernante auf dem Oberhofe und den „Speiseputz" (Kopfputz) sür die Frau Kantern, wenn sie zur Hochzeit oder zum Kindtaufen geladen° war. Mir brachte er aus Löwenberg einmal im Jahre die Wachskerzen mit und außerdem jeden Montag ein ideales Gut, woran er nicht schwer zu tragen

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/633>, abgerufen am 27.06.2024.