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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zu Leopold Rankes hundertsten Geburtstag

nsre Zeit ist sehr geneigt, dem sogenannten Milieu, der gesamten
Hingebung, der geistigen Lebensluft einer Persönlichkeit einen
überwiegenden Einfluß auf die Gestaltung ihres Wesens zu¬
zuschreiben, und sie meint zuweilen Wohl gar, sie sei nur das Er¬
gebnis dieses Milieu, wie die Frucht das Ergebnis der Pflanze ist.
Ich teile diese Anschauung keineswegs; ich meine vielmehr, daß, so sehr auch der
einzelne Mensch von seiner Umgebung beeinflußt wird, in jedem ein geheimnis¬
voller Kern seines Wesens lebt, dessen Ursprung für uns unergründlich bleibt,
und daß vor allem der Genius völlig unerklärbar ist. Immerhin bleibt es
interessant, bei bedeutenden Erscheinungen jene Lebensluft zu untersuchen, und so
bin auch ich einmal den Spuren des jungen Ranke nachgegangen und habe
den Landstrich durchwandert, in dem sich seine Jugend bis zum neunzehnten
Jahre abgespielt hat, von Nciumburg uach Schulpforte, dann über Kösen,
Freiburg, Laucha und Burgschcidungen an der Unstrut hinauf, bis in jenen
breiten, fruchtbaren, rings von sanften, teilweise bewaldeten Höhen von der
Außenwelt abgeschlossenen Teil ihres Thales, wo die hohe Burg Wendel¬
stein und die alte Königspfalz Memleben, die Klosterschulen Donndorf und
Noßleben auf engem Raume nebeneinanderliegen, und mitten drin am waldigen
Hange unter einem ansehnlichen Schlosse das Städtchen Wiese, die Heimat
Rankes. Noch heute ist es ein stilles Ackerstädtchen wie vor hundert Jahren;
beim Eintritt begegnete mir ein Schwarm Knechte und Mägde, die aufs Feld
hinauszogen, und der Ruhm des Ortes ist heute, daß er Rankes Geburtsstadt
ist,") Noch steht in der Hauptstraße das einfache, aber stattliche Haus seiner
Eltern, ein einstöckiges Gebäude von sieben Fenstern Front, wo er am
21. Dezember 1795 das Licht der Welt erblickte, und aus grünen Park¬
anlagen am Höhenrande über dem Städtchen blickt sein Denkmal. Da steht



*) Es sei bei dieser Gelegenheit an die treffliche Biographie von E. Guglia, L, Rankes
Leben und Werke (Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1393) erinnert.
Grenzboten IV 1895 77


Zu Leopold Rankes hundertsten Geburtstag

nsre Zeit ist sehr geneigt, dem sogenannten Milieu, der gesamten
Hingebung, der geistigen Lebensluft einer Persönlichkeit einen
überwiegenden Einfluß auf die Gestaltung ihres Wesens zu¬
zuschreiben, und sie meint zuweilen Wohl gar, sie sei nur das Er¬
gebnis dieses Milieu, wie die Frucht das Ergebnis der Pflanze ist.
Ich teile diese Anschauung keineswegs; ich meine vielmehr, daß, so sehr auch der
einzelne Mensch von seiner Umgebung beeinflußt wird, in jedem ein geheimnis¬
voller Kern seines Wesens lebt, dessen Ursprung für uns unergründlich bleibt,
und daß vor allem der Genius völlig unerklärbar ist. Immerhin bleibt es
interessant, bei bedeutenden Erscheinungen jene Lebensluft zu untersuchen, und so
bin auch ich einmal den Spuren des jungen Ranke nachgegangen und habe
den Landstrich durchwandert, in dem sich seine Jugend bis zum neunzehnten
Jahre abgespielt hat, von Nciumburg uach Schulpforte, dann über Kösen,
Freiburg, Laucha und Burgschcidungen an der Unstrut hinauf, bis in jenen
breiten, fruchtbaren, rings von sanften, teilweise bewaldeten Höhen von der
Außenwelt abgeschlossenen Teil ihres Thales, wo die hohe Burg Wendel¬
stein und die alte Königspfalz Memleben, die Klosterschulen Donndorf und
Noßleben auf engem Raume nebeneinanderliegen, und mitten drin am waldigen
Hange unter einem ansehnlichen Schlosse das Städtchen Wiese, die Heimat
Rankes. Noch heute ist es ein stilles Ackerstädtchen wie vor hundert Jahren;
beim Eintritt begegnete mir ein Schwarm Knechte und Mägde, die aufs Feld
hinauszogen, und der Ruhm des Ortes ist heute, daß er Rankes Geburtsstadt
ist,") Noch steht in der Hauptstraße das einfache, aber stattliche Haus seiner
Eltern, ein einstöckiges Gebäude von sieben Fenstern Front, wo er am
21. Dezember 1795 das Licht der Welt erblickte, und aus grünen Park¬
anlagen am Höhenrande über dem Städtchen blickt sein Denkmal. Da steht



*) Es sei bei dieser Gelegenheit an die treffliche Biographie von E. Guglia, L, Rankes
Leben und Werke (Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1393) erinnert.
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[0611] [Abbildung] Zu Leopold Rankes hundertsten Geburtstag nsre Zeit ist sehr geneigt, dem sogenannten Milieu, der gesamten Hingebung, der geistigen Lebensluft einer Persönlichkeit einen überwiegenden Einfluß auf die Gestaltung ihres Wesens zu¬ zuschreiben, und sie meint zuweilen Wohl gar, sie sei nur das Er¬ gebnis dieses Milieu, wie die Frucht das Ergebnis der Pflanze ist. Ich teile diese Anschauung keineswegs; ich meine vielmehr, daß, so sehr auch der einzelne Mensch von seiner Umgebung beeinflußt wird, in jedem ein geheimnis¬ voller Kern seines Wesens lebt, dessen Ursprung für uns unergründlich bleibt, und daß vor allem der Genius völlig unerklärbar ist. Immerhin bleibt es interessant, bei bedeutenden Erscheinungen jene Lebensluft zu untersuchen, und so bin auch ich einmal den Spuren des jungen Ranke nachgegangen und habe den Landstrich durchwandert, in dem sich seine Jugend bis zum neunzehnten Jahre abgespielt hat, von Nciumburg uach Schulpforte, dann über Kösen, Freiburg, Laucha und Burgschcidungen an der Unstrut hinauf, bis in jenen breiten, fruchtbaren, rings von sanften, teilweise bewaldeten Höhen von der Außenwelt abgeschlossenen Teil ihres Thales, wo die hohe Burg Wendel¬ stein und die alte Königspfalz Memleben, die Klosterschulen Donndorf und Noßleben auf engem Raume nebeneinanderliegen, und mitten drin am waldigen Hange unter einem ansehnlichen Schlosse das Städtchen Wiese, die Heimat Rankes. Noch heute ist es ein stilles Ackerstädtchen wie vor hundert Jahren; beim Eintritt begegnete mir ein Schwarm Knechte und Mägde, die aufs Feld hinauszogen, und der Ruhm des Ortes ist heute, daß er Rankes Geburtsstadt ist,") Noch steht in der Hauptstraße das einfache, aber stattliche Haus seiner Eltern, ein einstöckiges Gebäude von sieben Fenstern Front, wo er am 21. Dezember 1795 das Licht der Welt erblickte, und aus grünen Park¬ anlagen am Höhenrande über dem Städtchen blickt sein Denkmal. Da steht *) Es sei bei dieser Gelegenheit an die treffliche Biographie von E. Guglia, L, Rankes Leben und Werke (Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1393) erinnert. Grenzboten IV 1895 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/611>, abgerufen am 27.06.2024.