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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

herabhing, und an den Scheiben der Fenster war er hoch hinangeweht und hatte
sie blind gemacht. Und alles hüllte er in Schweigen.

Gedämpft klang selbst das Klingeln der auf lautlosen Kufen herangleiteuden
Schlitten. Die Fuhrleute, die vor dem Hause halten, schütteln sich die weißen
Flocken von den Röcken, nachdem sie den dampfenden Pferden die starr gefrornen
Decken übergeworfen haben, ehe sie die Treppe hinansteigen, um sich für ein Weilchen
in die warme Gaststube zu setzen. Sie öffnen leise die Hausthür, nachdem sie sich
den Schnee von den Schuhen gestoßen haben, und treten leise ein. Auch drinnen
im Hause ist jeder Laut gedämpft, das Gesinde geht leise und flüsternd ab und zu,
und Sorge liegt auf allen Gesichtern. Denn droben in der Stube liegt ein Schwer¬
kranker Mann.

Es hat ihn endlich niedergeworfen, und er liegt im Fieber. Es will nicht
besser werden mit ihm. Er weiß nichts von sich und murmelt unverständliche
Worte in qualvoller Unruhe. Der Doktor ist heraufgekommen im Schlitten und
hat bedenklich den Kopf geschüttelt. Es sei ein Nervenfieber; die Ursache könne
er nicht finden. Wo der kräftige Mann das erwischt haben möge? Aber man
müsse hoffen, er werde es schon überwinden, so ein Kerl wie der Xaver!

Aber die Kräfte des Kranken nehmen rasch ab. Die Wirtin sitzt an seinem
Bett und kühlt ihm die heiße Stiru. Matt leuchtet die verdeckte Lampe vom
Tisch. Will sie denn gar nicht enden, diese angstvolle Winternacht? Heiße Thränen
rollen ihr von den Augen, wie sie bang diese leblose und doch so unruhige Ge¬
stalt beobachtet, die sich rastlos auf dem Lager bewegt und sich doch kaum zu
bewegen vermag.

Das Ticken der Uhr klingt der Vroni hart und peinigend in die Ohre";
dazu hört sie durch die Stille das dumpfe Tosen des Wassers, das aus der Schlucht
zu ihr hereinbringt. Rastlos stürzt es hinab, rastlos wie sich die Hände des
Kranken auf der Decke bewegen. Ach käme doch endlich der Tag und verlöschte
dies ihren müden Augen wehthueude Licht der Lampe und die quälenden Töne,
denen sie nicht entrinnen kann.

Was ist dir, Xaver? Komm, sei stat, mein armer Bu!

Er hat sich aufrecht gesetzt und fährt mit den Händen in der Luft herum.

Laß aus, sag ich, röchelt seine Stimme; mich ziehst du nicht hinab! Laß
ans -- der Boden giebt nach -- Jesus!

Er sinkt aufs Kissen zurück und ist tot.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Nur immer den geraden Weg!

Sehr oft schon, und wiederum kurz vor
der Eröffnung des Reichstags, ist die Forderung erhoben worden, daß die sozial¬
demokratische Partei nicht länger auf dem Fuße der Gleichberechtigung mit den
andern Parteien behandelt werden solle. Die Forderung ist "nicht allein berechtigt,
sondern sogar notwendig, denn welcher Widersinn liegt doch darin, daß einer Partei


Maßgebliches und Unmaßgebliches

herabhing, und an den Scheiben der Fenster war er hoch hinangeweht und hatte
sie blind gemacht. Und alles hüllte er in Schweigen.

Gedämpft klang selbst das Klingeln der auf lautlosen Kufen herangleiteuden
Schlitten. Die Fuhrleute, die vor dem Hause halten, schütteln sich die weißen
Flocken von den Röcken, nachdem sie den dampfenden Pferden die starr gefrornen
Decken übergeworfen haben, ehe sie die Treppe hinansteigen, um sich für ein Weilchen
in die warme Gaststube zu setzen. Sie öffnen leise die Hausthür, nachdem sie sich
den Schnee von den Schuhen gestoßen haben, und treten leise ein. Auch drinnen
im Hause ist jeder Laut gedämpft, das Gesinde geht leise und flüsternd ab und zu,
und Sorge liegt auf allen Gesichtern. Denn droben in der Stube liegt ein Schwer¬
kranker Mann.

Es hat ihn endlich niedergeworfen, und er liegt im Fieber. Es will nicht
besser werden mit ihm. Er weiß nichts von sich und murmelt unverständliche
Worte in qualvoller Unruhe. Der Doktor ist heraufgekommen im Schlitten und
hat bedenklich den Kopf geschüttelt. Es sei ein Nervenfieber; die Ursache könne
er nicht finden. Wo der kräftige Mann das erwischt haben möge? Aber man
müsse hoffen, er werde es schon überwinden, so ein Kerl wie der Xaver!

Aber die Kräfte des Kranken nehmen rasch ab. Die Wirtin sitzt an seinem
Bett und kühlt ihm die heiße Stiru. Matt leuchtet die verdeckte Lampe vom
Tisch. Will sie denn gar nicht enden, diese angstvolle Winternacht? Heiße Thränen
rollen ihr von den Augen, wie sie bang diese leblose und doch so unruhige Ge¬
stalt beobachtet, die sich rastlos auf dem Lager bewegt und sich doch kaum zu
bewegen vermag.

Das Ticken der Uhr klingt der Vroni hart und peinigend in die Ohre»;
dazu hört sie durch die Stille das dumpfe Tosen des Wassers, das aus der Schlucht
zu ihr hereinbringt. Rastlos stürzt es hinab, rastlos wie sich die Hände des
Kranken auf der Decke bewegen. Ach käme doch endlich der Tag und verlöschte
dies ihren müden Augen wehthueude Licht der Lampe und die quälenden Töne,
denen sie nicht entrinnen kann.

Was ist dir, Xaver? Komm, sei stat, mein armer Bu!

Er hat sich aufrecht gesetzt und fährt mit den Händen in der Luft herum.

Laß aus, sag ich, röchelt seine Stimme; mich ziehst du nicht hinab! Laß
ans — der Boden giebt nach — Jesus!

Er sinkt aufs Kissen zurück und ist tot.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Nur immer den geraden Weg!

Sehr oft schon, und wiederum kurz vor
der Eröffnung des Reichstags, ist die Forderung erhoben worden, daß die sozial¬
demokratische Partei nicht länger auf dem Fuße der Gleichberechtigung mit den
andern Parteien behandelt werden solle. Die Forderung ist "nicht allein berechtigt,
sondern sogar notwendig, denn welcher Widersinn liegt doch darin, daß einer Partei


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[0592] Maßgebliches und Unmaßgebliches herabhing, und an den Scheiben der Fenster war er hoch hinangeweht und hatte sie blind gemacht. Und alles hüllte er in Schweigen. Gedämpft klang selbst das Klingeln der auf lautlosen Kufen herangleiteuden Schlitten. Die Fuhrleute, die vor dem Hause halten, schütteln sich die weißen Flocken von den Röcken, nachdem sie den dampfenden Pferden die starr gefrornen Decken übergeworfen haben, ehe sie die Treppe hinansteigen, um sich für ein Weilchen in die warme Gaststube zu setzen. Sie öffnen leise die Hausthür, nachdem sie sich den Schnee von den Schuhen gestoßen haben, und treten leise ein. Auch drinnen im Hause ist jeder Laut gedämpft, das Gesinde geht leise und flüsternd ab und zu, und Sorge liegt auf allen Gesichtern. Denn droben in der Stube liegt ein Schwer¬ kranker Mann. Es hat ihn endlich niedergeworfen, und er liegt im Fieber. Es will nicht besser werden mit ihm. Er weiß nichts von sich und murmelt unverständliche Worte in qualvoller Unruhe. Der Doktor ist heraufgekommen im Schlitten und hat bedenklich den Kopf geschüttelt. Es sei ein Nervenfieber; die Ursache könne er nicht finden. Wo der kräftige Mann das erwischt haben möge? Aber man müsse hoffen, er werde es schon überwinden, so ein Kerl wie der Xaver! Aber die Kräfte des Kranken nehmen rasch ab. Die Wirtin sitzt an seinem Bett und kühlt ihm die heiße Stiru. Matt leuchtet die verdeckte Lampe vom Tisch. Will sie denn gar nicht enden, diese angstvolle Winternacht? Heiße Thränen rollen ihr von den Augen, wie sie bang diese leblose und doch so unruhige Ge¬ stalt beobachtet, die sich rastlos auf dem Lager bewegt und sich doch kaum zu bewegen vermag. Das Ticken der Uhr klingt der Vroni hart und peinigend in die Ohre»; dazu hört sie durch die Stille das dumpfe Tosen des Wassers, das aus der Schlucht zu ihr hereinbringt. Rastlos stürzt es hinab, rastlos wie sich die Hände des Kranken auf der Decke bewegen. Ach käme doch endlich der Tag und verlöschte dies ihren müden Augen wehthueude Licht der Lampe und die quälenden Töne, denen sie nicht entrinnen kann. Was ist dir, Xaver? Komm, sei stat, mein armer Bu! Er hat sich aufrecht gesetzt und fährt mit den Händen in der Luft herum. Laß aus, sag ich, röchelt seine Stimme; mich ziehst du nicht hinab! Laß ans — der Boden giebt nach — Jesus! Er sinkt aufs Kissen zurück und ist tot. Maßgebliches und Unmaßgebliches Nur immer den geraden Weg! Sehr oft schon, und wiederum kurz vor der Eröffnung des Reichstags, ist die Forderung erhoben worden, daß die sozial¬ demokratische Partei nicht länger auf dem Fuße der Gleichberechtigung mit den andern Parteien behandelt werden solle. Die Forderung ist "nicht allein berechtigt, sondern sogar notwendig, denn welcher Widersinn liegt doch darin, daß einer Partei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/592>, abgerufen am 27.06.2024.