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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Dardanellen und Nil
(Schluß)

urch die Besetzung Ägyptens und Cyperns ist England zur Türkei
in die Stellung des Mannes gekommen, der sich von seines
schwachen Freundes Besitz wertvolle Teile angeeignet hat, ohne
daß dieser die Macht hätte, ihn daraus zu vertreiben. Der
Schwache muß sich sogar gefallen lassen, daß der räuberische
Starke ihn noch immer weiter seiner Freundschaft versichert und sich den An¬
schein giebt, als ließe er ihm seinen großmütiger Schutz angedeihen. Ägypten
gehört noch immer nach dem Firman von 1841, der Mehemed Ali zum erblichen
Herrscher machte, der Form nach zum türkischen Reich, und dieses hat Englands
Vormundschaft über den Nil-Suzerän uicht anerkannt. Welcher türkische Staats¬
mann könnte Englands Ausbreitung über Ägypten ansehen, ohne sich zu sagen,
daß genau so einst die englische "Verwaltung" Kleinasiens und Syriens be¬
trieben werden würde, wenn nicht am Bosporus andre Mitbewerber stünden
als Frankreich, das Ägypten in einem so kläglichen Anfall von Schwäche auf¬
gegeben hat? Solcher Anwandlungen ist Rußland allerdings nicht verdächtig.
Was aber die Türken an Rußland verloren haben, ist ihnen im ehrlichen
Krieg genommen worden; was von ihnen England in Händen hat, wissen sie
sich schlau entwendet. Man weiß also in Stambul, was englische Freund¬
schaftsbezeugungen wert siud. Man kennt dort auch geuau die UnVersöhnlich¬
keit der Mächte, die Englands Stellung in Ägypten nicht anerkennen, und rechnet
gerade darum auf die Unmöglichkeit einer auch nur vorübergehenden Einmütig¬
keit der Mächte in allen die Türkei angehenden Fragen. Wie es scheint, mit
Grund, wenn auch nicht mit günstigem Erfolg für die innere Gesundung des
türkischen Reiches, die bei einem wirklichen "Konzert" der Mächte ganz anders
hätte fortschreiten können.


Grenzbvte" IV 1395 71


Dardanellen und Nil
(Schluß)

urch die Besetzung Ägyptens und Cyperns ist England zur Türkei
in die Stellung des Mannes gekommen, der sich von seines
schwachen Freundes Besitz wertvolle Teile angeeignet hat, ohne
daß dieser die Macht hätte, ihn daraus zu vertreiben. Der
Schwache muß sich sogar gefallen lassen, daß der räuberische
Starke ihn noch immer weiter seiner Freundschaft versichert und sich den An¬
schein giebt, als ließe er ihm seinen großmütiger Schutz angedeihen. Ägypten
gehört noch immer nach dem Firman von 1841, der Mehemed Ali zum erblichen
Herrscher machte, der Form nach zum türkischen Reich, und dieses hat Englands
Vormundschaft über den Nil-Suzerän uicht anerkannt. Welcher türkische Staats¬
mann könnte Englands Ausbreitung über Ägypten ansehen, ohne sich zu sagen,
daß genau so einst die englische „Verwaltung" Kleinasiens und Syriens be¬
trieben werden würde, wenn nicht am Bosporus andre Mitbewerber stünden
als Frankreich, das Ägypten in einem so kläglichen Anfall von Schwäche auf¬
gegeben hat? Solcher Anwandlungen ist Rußland allerdings nicht verdächtig.
Was aber die Türken an Rußland verloren haben, ist ihnen im ehrlichen
Krieg genommen worden; was von ihnen England in Händen hat, wissen sie
sich schlau entwendet. Man weiß also in Stambul, was englische Freund¬
schaftsbezeugungen wert siud. Man kennt dort auch geuau die UnVersöhnlich¬
keit der Mächte, die Englands Stellung in Ägypten nicht anerkennen, und rechnet
gerade darum auf die Unmöglichkeit einer auch nur vorübergehenden Einmütig¬
keit der Mächte in allen die Türkei angehenden Fragen. Wie es scheint, mit
Grund, wenn auch nicht mit günstigem Erfolg für die innere Gesundung des
türkischen Reiches, die bei einem wirklichen „Konzert" der Mächte ganz anders
hätte fortschreiten können.


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[0563] [Abbildung] Dardanellen und Nil (Schluß) urch die Besetzung Ägyptens und Cyperns ist England zur Türkei in die Stellung des Mannes gekommen, der sich von seines schwachen Freundes Besitz wertvolle Teile angeeignet hat, ohne daß dieser die Macht hätte, ihn daraus zu vertreiben. Der Schwache muß sich sogar gefallen lassen, daß der räuberische Starke ihn noch immer weiter seiner Freundschaft versichert und sich den An¬ schein giebt, als ließe er ihm seinen großmütiger Schutz angedeihen. Ägypten gehört noch immer nach dem Firman von 1841, der Mehemed Ali zum erblichen Herrscher machte, der Form nach zum türkischen Reich, und dieses hat Englands Vormundschaft über den Nil-Suzerän uicht anerkannt. Welcher türkische Staats¬ mann könnte Englands Ausbreitung über Ägypten ansehen, ohne sich zu sagen, daß genau so einst die englische „Verwaltung" Kleinasiens und Syriens be¬ trieben werden würde, wenn nicht am Bosporus andre Mitbewerber stünden als Frankreich, das Ägypten in einem so kläglichen Anfall von Schwäche auf¬ gegeben hat? Solcher Anwandlungen ist Rußland allerdings nicht verdächtig. Was aber die Türken an Rußland verloren haben, ist ihnen im ehrlichen Krieg genommen worden; was von ihnen England in Händen hat, wissen sie sich schlau entwendet. Man weiß also in Stambul, was englische Freund¬ schaftsbezeugungen wert siud. Man kennt dort auch geuau die UnVersöhnlich¬ keit der Mächte, die Englands Stellung in Ägypten nicht anerkennen, und rechnet gerade darum auf die Unmöglichkeit einer auch nur vorübergehenden Einmütig¬ keit der Mächte in allen die Türkei angehenden Fragen. Wie es scheint, mit Grund, wenn auch nicht mit günstigem Erfolg für die innere Gesundung des türkischen Reiches, die bei einem wirklichen „Konzert" der Mächte ganz anders hätte fortschreiten können. Grenzbvte» IV 1395 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/563>, abgerufen am 27.06.2024.