Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.Beleidigungsprozesse eit den schönen Erinnernngsfesten dieses Sommers ist über Deutsch¬ Grenzten IV 1895 58
Beleidigungsprozesse eit den schönen Erinnernngsfesten dieses Sommers ist über Deutsch¬ Grenzten IV 1895 58
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221433"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341861_220975/figures/grenzboten_341861_220975_221433_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Beleidigungsprozesse</head><lb/> <p xml:id="ID_1520" next="#ID_1521"> eit den schönen Erinnernngsfesten dieses Sommers ist über Deutsch¬<lb/> land eine Sündflut von Beleidigungs- und Majestätsbeleidigungs-<lb/> prozessen hereingebrochen, die in allen politischen Lagern ernste<lb/> Besorgnisse hervorruft. Allgemein ist das Kopfschütteln über die<lb/> Art der Prozedur, den Inhalt der ergangnen Gerichtsurteile.<lb/> Fast im Handumdrehen ist es der Sozialdemokratin gelungen, ihre rohen Ver¬<lb/> sündigungen am Geiste unsers Volks vergessen zu machen und sich in das Ge¬<lb/> wand des Märtyrertums für Freiheit und Münnerwürde zu hüllen. Daß doch<lb/> die Deutschen, „aus doktrinärer Prinzipienreiterei," von dem Zauber dieser Worte<lb/> nicht lassen und nicht aufhören mögen, Gerechtigkeit auch für den Gegner zu<lb/> fordern! Aber auch wer sich von solch sentimentalen Regungen frei weiß, der<lb/> denkt doch an das Heute mir, morgen dir! und schon fängt man an, auch im<lb/> alltäglichen Gespräch die Worte auf die Goldwage zu legen. Ob eine Stim¬<lb/> mung der Nation, deren wahre Natur der künftige Geschichtschreiber bald nur<lb/> noch aus vertrauten Privatbriefen wird feststellen können, den Herrschenden<lb/> selbst nützlich sei, wollen wir nicht untersuchen. Jedenfalls ist es ein schweres<lb/> Unglück, wenn tiefgehende Empfindungen der Volksseele, wenn monarchischer<lb/> und bürgerlicher Sinn oft in derselben Brust mit einander in Widerstreit ge¬<lb/> raten wollen. Der kaiserliche Name erschien einst der abendländischen Christen¬<lb/> heit als der Inbegriff höchster irdischer Machtfülle, er ist mit den Sagen und<lb/> Überlieferungen unsers Volks aufs innigste verknüpft, seine Wiederherstellung<lb/> entsprach der tiefsten Sehnsucht der Nation, sein Glanz kann sich vorüber¬<lb/> gehend verdunkeln, doch niemals ganz erlöschen. Wir alle wollen, daß die<lb/> Person des Herrschers auch durch strenge Strafbestimmungen gegen Verunglim¬<lb/> pfungen geschützt sei. Wir wollen es erst recht, seitdem in dem modernen<lb/> Verfassungsstaate auch das Volk zu werkthätiger Teilnahme an der Leitung</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzten IV 1895 58</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0459]
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Beleidigungsprozesse
eit den schönen Erinnernngsfesten dieses Sommers ist über Deutsch¬
land eine Sündflut von Beleidigungs- und Majestätsbeleidigungs-
prozessen hereingebrochen, die in allen politischen Lagern ernste
Besorgnisse hervorruft. Allgemein ist das Kopfschütteln über die
Art der Prozedur, den Inhalt der ergangnen Gerichtsurteile.
Fast im Handumdrehen ist es der Sozialdemokratin gelungen, ihre rohen Ver¬
sündigungen am Geiste unsers Volks vergessen zu machen und sich in das Ge¬
wand des Märtyrertums für Freiheit und Münnerwürde zu hüllen. Daß doch
die Deutschen, „aus doktrinärer Prinzipienreiterei," von dem Zauber dieser Worte
nicht lassen und nicht aufhören mögen, Gerechtigkeit auch für den Gegner zu
fordern! Aber auch wer sich von solch sentimentalen Regungen frei weiß, der
denkt doch an das Heute mir, morgen dir! und schon fängt man an, auch im
alltäglichen Gespräch die Worte auf die Goldwage zu legen. Ob eine Stim¬
mung der Nation, deren wahre Natur der künftige Geschichtschreiber bald nur
noch aus vertrauten Privatbriefen wird feststellen können, den Herrschenden
selbst nützlich sei, wollen wir nicht untersuchen. Jedenfalls ist es ein schweres
Unglück, wenn tiefgehende Empfindungen der Volksseele, wenn monarchischer
und bürgerlicher Sinn oft in derselben Brust mit einander in Widerstreit ge¬
raten wollen. Der kaiserliche Name erschien einst der abendländischen Christen¬
heit als der Inbegriff höchster irdischer Machtfülle, er ist mit den Sagen und
Überlieferungen unsers Volks aufs innigste verknüpft, seine Wiederherstellung
entsprach der tiefsten Sehnsucht der Nation, sein Glanz kann sich vorüber¬
gehend verdunkeln, doch niemals ganz erlöschen. Wir alle wollen, daß die
Person des Herrschers auch durch strenge Strafbestimmungen gegen Verunglim¬
pfungen geschützt sei. Wir wollen es erst recht, seitdem in dem modernen
Verfassungsstaate auch das Volk zu werkthätiger Teilnahme an der Leitung
Grenzten IV 1895 58
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