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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Beleidigungsprozeffe

seiner Geschicke berufen ist. Der Schutz des Kaisers ist sogar ein notwendiges
Gegenstück zu den Vorrechten, mit denen die Reichsverfassung den Reichstag
umgeben hat, und die in manchen Stücken an die Immunität des Herrschers
hinanreichen. Verlangen wir vom Kaiser, daß er diese Privilegien der Volks¬
vertretung in Ehren halte, so müssen wir auch die kaiserlichen Privilegien zu
ehren allezeit bereit sein. Aber in einer Zeit, wo unglücklicherweise Herrscher
und Volk, die beiden großen Mächte im deutschen Staatsleben, ihre Rechte
gegen einander mehr und mehr hervorzukehren beginnen, thut eines dringend
not: genau zu wissen, wie weit diese Rechte reichen. Und da ist es ein neues
Unglück, daß der Begriff dessen, was uuter Majestätsbeleidigung zu verstehen
ist und damit der Inhalt der Majestätsrechte selbst wie der Begriff der Be¬
leidigung überhaupt in dem Urteile der Gerichte gegenwärtig aufs äußerste
verwirrt ist.

Wir geben von vornherein zu, daß es gerade für das Vergehe" der Be¬
leidigung fast unmöglich ist, im Gesetze selbst eine klare und erschöpfende Be¬
stimmung zu geben. Wir tadeln es nicht, daß auch das deutsche Strafgesetz¬
buch hierauf verzichtet hat. Soll aber das öffentliche Leben eines großen
Volks nicht ans die Dauer schweren Schaden leiden, so darf die Grenze der
erlaubten und der unerlaubten Meinungsäußerung nicht verworren bleiben.
Es kaun, da das Gesetz versagt, nur Aufgabe der Gerichte sein, diese Grenze
abzustecken, und zwar so deutlich, daß nur Unverstand oder offenbare Bosheit
darüber hiuwegschreiten kann. Die Aufgabe liegt vor allem dem Reichsgericht
ob. Leider hat sich ihr der höchste Gerichtshof, auf Grund einer unhaltbaren
Rechtsauffassung. bisher geflissentlich entzogen.

Was man auch immer unter Beleidigung verstehen mag, so sind doch
dabei, wie bei allen strafbaren Handlungen, zwei Seiten deutlich von einander
zu unterscheiden: die objektive, d. h. die Frage, ob die betreffende Äußerung,
nach dem gemeinen Sprachgebrauch betrachtet, überhaupt einen beleidigenden
Inhalt hat und haben kann, und die subjektive, d. h. ob sie gerade in diesem
beleidigenden Sinne von dem Urheber der Äußerung gebraucht worden ist.
Das Reichsgericht hält bei allen übrigen strafbaren Handlungen streng darauf,
sich die Entscheidung darüber vorzubehalten, ob jene objektive": Merkmale des
Verbrechens wirklich vorliegen. Wollte z. B. das Landgericht jemand wegen
Diebstahls bestrafen, weil er die fließende Wasserwelle geschöpft und damit an¬
geblich eine fremde bewegliche Sache sich zugeeignet habe, so würde sich das
Reichsgericht über diese unmögliche Feststellung hinwegsetzen und den Thäter
einfach freisprechen. Auffallenderweise hat es sich aber gerade bei der Belei¬
digung an die sogenannten thatsächlichen Feststellungen der Landgerichte nicht
bloß in der Frage der beleidigenden Absicht, sondern auch in der Vor- und
Hauptfrage, ob denn überhaupt äußerlich eine Beleidigung vorliege, für ge¬
bunden erklärt. Dabei scheint die gleichfalls unhaltbare Ansicht mit unterm-


Beleidigungsprozeffe

seiner Geschicke berufen ist. Der Schutz des Kaisers ist sogar ein notwendiges
Gegenstück zu den Vorrechten, mit denen die Reichsverfassung den Reichstag
umgeben hat, und die in manchen Stücken an die Immunität des Herrschers
hinanreichen. Verlangen wir vom Kaiser, daß er diese Privilegien der Volks¬
vertretung in Ehren halte, so müssen wir auch die kaiserlichen Privilegien zu
ehren allezeit bereit sein. Aber in einer Zeit, wo unglücklicherweise Herrscher
und Volk, die beiden großen Mächte im deutschen Staatsleben, ihre Rechte
gegen einander mehr und mehr hervorzukehren beginnen, thut eines dringend
not: genau zu wissen, wie weit diese Rechte reichen. Und da ist es ein neues
Unglück, daß der Begriff dessen, was uuter Majestätsbeleidigung zu verstehen
ist und damit der Inhalt der Majestätsrechte selbst wie der Begriff der Be¬
leidigung überhaupt in dem Urteile der Gerichte gegenwärtig aufs äußerste
verwirrt ist.

Wir geben von vornherein zu, daß es gerade für das Vergehe» der Be¬
leidigung fast unmöglich ist, im Gesetze selbst eine klare und erschöpfende Be¬
stimmung zu geben. Wir tadeln es nicht, daß auch das deutsche Strafgesetz¬
buch hierauf verzichtet hat. Soll aber das öffentliche Leben eines großen
Volks nicht ans die Dauer schweren Schaden leiden, so darf die Grenze der
erlaubten und der unerlaubten Meinungsäußerung nicht verworren bleiben.
Es kaun, da das Gesetz versagt, nur Aufgabe der Gerichte sein, diese Grenze
abzustecken, und zwar so deutlich, daß nur Unverstand oder offenbare Bosheit
darüber hiuwegschreiten kann. Die Aufgabe liegt vor allem dem Reichsgericht
ob. Leider hat sich ihr der höchste Gerichtshof, auf Grund einer unhaltbaren
Rechtsauffassung. bisher geflissentlich entzogen.

Was man auch immer unter Beleidigung verstehen mag, so sind doch
dabei, wie bei allen strafbaren Handlungen, zwei Seiten deutlich von einander
zu unterscheiden: die objektive, d. h. die Frage, ob die betreffende Äußerung,
nach dem gemeinen Sprachgebrauch betrachtet, überhaupt einen beleidigenden
Inhalt hat und haben kann, und die subjektive, d. h. ob sie gerade in diesem
beleidigenden Sinne von dem Urheber der Äußerung gebraucht worden ist.
Das Reichsgericht hält bei allen übrigen strafbaren Handlungen streng darauf,
sich die Entscheidung darüber vorzubehalten, ob jene objektive«: Merkmale des
Verbrechens wirklich vorliegen. Wollte z. B. das Landgericht jemand wegen
Diebstahls bestrafen, weil er die fließende Wasserwelle geschöpft und damit an¬
geblich eine fremde bewegliche Sache sich zugeeignet habe, so würde sich das
Reichsgericht über diese unmögliche Feststellung hinwegsetzen und den Thäter
einfach freisprechen. Auffallenderweise hat es sich aber gerade bei der Belei¬
digung an die sogenannten thatsächlichen Feststellungen der Landgerichte nicht
bloß in der Frage der beleidigenden Absicht, sondern auch in der Vor- und
Hauptfrage, ob denn überhaupt äußerlich eine Beleidigung vorliege, für ge¬
bunden erklärt. Dabei scheint die gleichfalls unhaltbare Ansicht mit unterm-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/460>, abgerufen am 29.06.2024.