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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik
". Rußland gegen England am Hindukusch und in Afghanistan
1

u den Komödien, mit denen England die Kannegießer von ganz
Europa unterhält, während es für seine Interessen arbeitet, ge¬
hört schon seit zwei Menschenaltern das Geschrei über Ru߬
lands Vordringen in Zentralasieu. Aller paar Jahre gerät
Presse und Parlament jenseits des Kanals in eine anscheinend
aufrichtige Aufregung, zetert gegen das eroberungssüchtige Nußland und erklärt,
es müsse endlich am Hindukusch oder am Pamir ein unerbittliches "Bis
hierher und nicht weiter!" ausgesprochen werden. Englische und russische
Diplomaten stecken die Köpfe zusammen, während höhere Offiziere, die sich so
etwas gestatten dürfen, unvorsichtige Drohungen ausstoßen, die oft uicht einmal
zurückgenommen werden. Während die russischen Kolonnen im Norden mar¬
schieren, rollen im Süden die Rupien nach Kabul, Herat oder Uarkand, und
es folgen ihnen Kisten mit Waffen oder Munition, denn England liebt den
Frieden. Lord Clarendon war einmal so naiv, dem russischen Minister zu be¬
teuern: Unsre Geld- und Wnffensendungen nach Afghanistan haben gar nichts
mit euerm Vormarsch zu thun! England ist entschlossen, sich Ruhe zu schaffen,
und wäre es um den Preis der blutigen Köpfe, die es andre für sich holen
läßt. Läßt sich aber Rußland nicht erweichen und nicht einschüchtern, so weicht
England zurück, indem es ein neues Stück Land seinem riesigen Besitz zufügt,
und wir sehen mit Staunen auf der Karte, daß sich sein Gebiet uuter all
dem Lärm noch mehr vergrößert hat als das russische.

Das Publikum sah und sieht in der "Frage" von Chiwa, von Merw
und Ost-Turkestan, in der persischen, afghanischen, bucharischen und in der


Grenzboten IV 1895 14



Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik
». Rußland gegen England am Hindukusch und in Afghanistan
1

u den Komödien, mit denen England die Kannegießer von ganz
Europa unterhält, während es für seine Interessen arbeitet, ge¬
hört schon seit zwei Menschenaltern das Geschrei über Ru߬
lands Vordringen in Zentralasieu. Aller paar Jahre gerät
Presse und Parlament jenseits des Kanals in eine anscheinend
aufrichtige Aufregung, zetert gegen das eroberungssüchtige Nußland und erklärt,
es müsse endlich am Hindukusch oder am Pamir ein unerbittliches „Bis
hierher und nicht weiter!" ausgesprochen werden. Englische und russische
Diplomaten stecken die Köpfe zusammen, während höhere Offiziere, die sich so
etwas gestatten dürfen, unvorsichtige Drohungen ausstoßen, die oft uicht einmal
zurückgenommen werden. Während die russischen Kolonnen im Norden mar¬
schieren, rollen im Süden die Rupien nach Kabul, Herat oder Uarkand, und
es folgen ihnen Kisten mit Waffen oder Munition, denn England liebt den
Frieden. Lord Clarendon war einmal so naiv, dem russischen Minister zu be¬
teuern: Unsre Geld- und Wnffensendungen nach Afghanistan haben gar nichts
mit euerm Vormarsch zu thun! England ist entschlossen, sich Ruhe zu schaffen,
und wäre es um den Preis der blutigen Köpfe, die es andre für sich holen
läßt. Läßt sich aber Rußland nicht erweichen und nicht einschüchtern, so weicht
England zurück, indem es ein neues Stück Land seinem riesigen Besitz zufügt,
und wir sehen mit Staunen auf der Karte, daß sich sein Gebiet uuter all
dem Lärm noch mehr vergrößert hat als das russische.

Das Publikum sah und sieht in der „Frage" von Chiwa, von Merw
und Ost-Turkestan, in der persischen, afghanischen, bucharischen und in der


Grenzboten IV 1895 14
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[0113] [Abbildung] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik ». Rußland gegen England am Hindukusch und in Afghanistan 1 u den Komödien, mit denen England die Kannegießer von ganz Europa unterhält, während es für seine Interessen arbeitet, ge¬ hört schon seit zwei Menschenaltern das Geschrei über Ru߬ lands Vordringen in Zentralasieu. Aller paar Jahre gerät Presse und Parlament jenseits des Kanals in eine anscheinend aufrichtige Aufregung, zetert gegen das eroberungssüchtige Nußland und erklärt, es müsse endlich am Hindukusch oder am Pamir ein unerbittliches „Bis hierher und nicht weiter!" ausgesprochen werden. Englische und russische Diplomaten stecken die Köpfe zusammen, während höhere Offiziere, die sich so etwas gestatten dürfen, unvorsichtige Drohungen ausstoßen, die oft uicht einmal zurückgenommen werden. Während die russischen Kolonnen im Norden mar¬ schieren, rollen im Süden die Rupien nach Kabul, Herat oder Uarkand, und es folgen ihnen Kisten mit Waffen oder Munition, denn England liebt den Frieden. Lord Clarendon war einmal so naiv, dem russischen Minister zu be¬ teuern: Unsre Geld- und Wnffensendungen nach Afghanistan haben gar nichts mit euerm Vormarsch zu thun! England ist entschlossen, sich Ruhe zu schaffen, und wäre es um den Preis der blutigen Köpfe, die es andre für sich holen läßt. Läßt sich aber Rußland nicht erweichen und nicht einschüchtern, so weicht England zurück, indem es ein neues Stück Land seinem riesigen Besitz zufügt, und wir sehen mit Staunen auf der Karte, daß sich sein Gebiet uuter all dem Lärm noch mehr vergrößert hat als das russische. Das Publikum sah und sieht in der „Frage" von Chiwa, von Merw und Ost-Turkestan, in der persischen, afghanischen, bucharischen und in der Grenzboten IV 1895 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/113>, abgerufen am 27.06.2024.