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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

auseinanderzusetzen imstande bin. Vorläufig getroste ich mich aber noch der sichern
Hoffnung, daß Ihr Entschluß kein unumstößlicher gewesen sei, daß Sie sich das
Gefährliche eines Experiments, wie Sie es beabsichtigen, nicht vollkommen klar
gemacht haben, und daß Sie wie bisher auch in der Folge den reinen Kultus,
dessen Erhalter zu sein Sie berufen sind, vor maß- und ziellosen Schwärmern und
wüsten Fanatikern zu beschütze" wissen werdem. Der Blick ans die Devise des
Gewandhaussaales und auf das edle Haupt des unvergeßlichen Mannes, der in
allem seinem Thun und Lassen das Musterbild des edelsten Kiinstlertums war,
mag fort und fort an das Rechte und Gute mahnen, nur dies ausführen lassen
und vor Verirrungen bewahren.

Leipzig, den 9. Januar 1857


In hochachtungsvoller Ergebenheit
Julius Rietz
Wissenschaft oder Spielerei?

Vor einigen Jahren schickte ein Vertreter
der sogenannten psychophysischen Schule an angesehene Tonkünstler Fragebogen, um
zu erfahren, ob sie beim Musizircn um Farben dächten, in welcher Weise diese
Farbenvorstellungcn zu entstehen und zu verschwinden pflegten, ob zwischen be¬
stimmten Tonreihen und bestimmten Farben ein regelmäßiges Verhältnis bestehe
u. s. w.

Die Berechtigung und Bedeutung dieser Untersuchung soll nicht verkannt
werden. Von ihren Ergebnissen hat nichts verlautet. Sie werden negativ gewesen
sein. Uns bekannte Musiker waren geneigt, die Idee für einen "Unsinn" zu halten.
Nach ihrer übereinstimmenden Erfahrung nähmen -- unbeschadet der tiefern geistigen
Wirkung eines Musikstücks -- die Töne die Aufmerksamkeit dermaßen in Anspruch,
daß für Farbenvorstcllungen nichts übrig bleibe. Ein solches Abirren der Phan¬
tasie, Dnseln und Träumen verurteilten sie als dilettantisch.

Daß damit die Psychophhsiker die Sache für erledigt halten sollten, ist kaum
nnzuuehmeu. Auf ihrer Seite steht scheinbar Hanslick, der das Kaleidoskop mit
dem Wesen und den Zielen der instrumentalen Komposition in nahe Verwandtschaft
gestellt hat. Da ist es interessant, daß jetzt der Musikerpartei nachträglich noch
Richard Wagner zu Hilfe kommt. In einem soeben veröffentlichten Bande "nach¬
gelassener Schriften und Dichtungen" von ihm (Leipzig, Breitkopf u. Härtel, 1395)
lesen wir Seite 149 an der Spitze einer Reihe von "Aphorismen": "Es ist mir bei
-- geistreichen -- Leuten, welche gar keinen musikalischen Sinn hatten, vorgekommen,
daß sie sich die ihnen ausdruckslos erscheinenden Tongestaltungen nnalogisch dnrch
Farbencindrücke zu deuten suchten; nie aber ist mir ein musikalischer Mensch be¬
gegnet, welchem bei Tönen Farben erschienen wären, außer redensartlich."




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

auseinanderzusetzen imstande bin. Vorläufig getroste ich mich aber noch der sichern
Hoffnung, daß Ihr Entschluß kein unumstößlicher gewesen sei, daß Sie sich das
Gefährliche eines Experiments, wie Sie es beabsichtigen, nicht vollkommen klar
gemacht haben, und daß Sie wie bisher auch in der Folge den reinen Kultus,
dessen Erhalter zu sein Sie berufen sind, vor maß- und ziellosen Schwärmern und
wüsten Fanatikern zu beschütze» wissen werdem. Der Blick ans die Devise des
Gewandhaussaales und auf das edle Haupt des unvergeßlichen Mannes, der in
allem seinem Thun und Lassen das Musterbild des edelsten Kiinstlertums war,
mag fort und fort an das Rechte und Gute mahnen, nur dies ausführen lassen
und vor Verirrungen bewahren.

Leipzig, den 9. Januar 1857


In hochachtungsvoller Ergebenheit
Julius Rietz
Wissenschaft oder Spielerei?

Vor einigen Jahren schickte ein Vertreter
der sogenannten psychophysischen Schule an angesehene Tonkünstler Fragebogen, um
zu erfahren, ob sie beim Musizircn um Farben dächten, in welcher Weise diese
Farbenvorstellungcn zu entstehen und zu verschwinden pflegten, ob zwischen be¬
stimmten Tonreihen und bestimmten Farben ein regelmäßiges Verhältnis bestehe
u. s. w.

Die Berechtigung und Bedeutung dieser Untersuchung soll nicht verkannt
werden. Von ihren Ergebnissen hat nichts verlautet. Sie werden negativ gewesen
sein. Uns bekannte Musiker waren geneigt, die Idee für einen „Unsinn" zu halten.
Nach ihrer übereinstimmenden Erfahrung nähmen — unbeschadet der tiefern geistigen
Wirkung eines Musikstücks — die Töne die Aufmerksamkeit dermaßen in Anspruch,
daß für Farbenvorstcllungen nichts übrig bleibe. Ein solches Abirren der Phan¬
tasie, Dnseln und Träumen verurteilten sie als dilettantisch.

Daß damit die Psychophhsiker die Sache für erledigt halten sollten, ist kaum
nnzuuehmeu. Auf ihrer Seite steht scheinbar Hanslick, der das Kaleidoskop mit
dem Wesen und den Zielen der instrumentalen Komposition in nahe Verwandtschaft
gestellt hat. Da ist es interessant, daß jetzt der Musikerpartei nachträglich noch
Richard Wagner zu Hilfe kommt. In einem soeben veröffentlichten Bande „nach¬
gelassener Schriften und Dichtungen" von ihm (Leipzig, Breitkopf u. Härtel, 1395)
lesen wir Seite 149 an der Spitze einer Reihe von „Aphorismen": „Es ist mir bei
— geistreichen — Leuten, welche gar keinen musikalischen Sinn hatten, vorgekommen,
daß sie sich die ihnen ausdruckslos erscheinenden Tongestaltungen nnalogisch dnrch
Farbencindrücke zu deuten suchten; nie aber ist mir ein musikalischer Mensch be¬
gegnet, welchem bei Tönen Farben erschienen wären, außer redensartlich."




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0112] Maßgebliches und Unmaßgebliches auseinanderzusetzen imstande bin. Vorläufig getroste ich mich aber noch der sichern Hoffnung, daß Ihr Entschluß kein unumstößlicher gewesen sei, daß Sie sich das Gefährliche eines Experiments, wie Sie es beabsichtigen, nicht vollkommen klar gemacht haben, und daß Sie wie bisher auch in der Folge den reinen Kultus, dessen Erhalter zu sein Sie berufen sind, vor maß- und ziellosen Schwärmern und wüsten Fanatikern zu beschütze» wissen werdem. Der Blick ans die Devise des Gewandhaussaales und auf das edle Haupt des unvergeßlichen Mannes, der in allem seinem Thun und Lassen das Musterbild des edelsten Kiinstlertums war, mag fort und fort an das Rechte und Gute mahnen, nur dies ausführen lassen und vor Verirrungen bewahren. Leipzig, den 9. Januar 1857 In hochachtungsvoller Ergebenheit Julius Rietz Wissenschaft oder Spielerei? Vor einigen Jahren schickte ein Vertreter der sogenannten psychophysischen Schule an angesehene Tonkünstler Fragebogen, um zu erfahren, ob sie beim Musizircn um Farben dächten, in welcher Weise diese Farbenvorstellungcn zu entstehen und zu verschwinden pflegten, ob zwischen be¬ stimmten Tonreihen und bestimmten Farben ein regelmäßiges Verhältnis bestehe u. s. w. Die Berechtigung und Bedeutung dieser Untersuchung soll nicht verkannt werden. Von ihren Ergebnissen hat nichts verlautet. Sie werden negativ gewesen sein. Uns bekannte Musiker waren geneigt, die Idee für einen „Unsinn" zu halten. Nach ihrer übereinstimmenden Erfahrung nähmen — unbeschadet der tiefern geistigen Wirkung eines Musikstücks — die Töne die Aufmerksamkeit dermaßen in Anspruch, daß für Farbenvorstcllungen nichts übrig bleibe. Ein solches Abirren der Phan¬ tasie, Dnseln und Träumen verurteilten sie als dilettantisch. Daß damit die Psychophhsiker die Sache für erledigt halten sollten, ist kaum nnzuuehmeu. Auf ihrer Seite steht scheinbar Hanslick, der das Kaleidoskop mit dem Wesen und den Zielen der instrumentalen Komposition in nahe Verwandtschaft gestellt hat. Da ist es interessant, daß jetzt der Musikerpartei nachträglich noch Richard Wagner zu Hilfe kommt. In einem soeben veröffentlichten Bande „nach¬ gelassener Schriften und Dichtungen" von ihm (Leipzig, Breitkopf u. Härtel, 1395) lesen wir Seite 149 an der Spitze einer Reihe von „Aphorismen": „Es ist mir bei — geistreichen — Leuten, welche gar keinen musikalischen Sinn hatten, vorgekommen, daß sie sich die ihnen ausdruckslos erscheinenden Tongestaltungen nnalogisch dnrch Farbencindrücke zu deuten suchten; nie aber ist mir ein musikalischer Mensch be¬ gegnet, welchem bei Tönen Farben erschienen wären, außer redensartlich." Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/112>, abgerufen am 22.06.2024.