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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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nicht unerhörte, aber in diesem besondern Falle geradezu unglückselige Über¬
schätzung dessen, was man öffentliches Leben nennt, gegenüber allem, was
er Privatleben nennt, in Dühring lebendig zu sein, er scheint kein Organ
für die Fülle, den Reichtum, den unversieglichen Lebensquell dieses verachteten
Privatlebens für die Poesie zu haben. Endlich verwahrt sich zwar Dühring
sehr energisch dagegen, irgend welchen Äußerlichkeiten großes Gewicht beizu¬
legen, und teilt sicher nicht den Standpunkt jenes Bankiers, der beim Betrachten
von Kostümbildcrn aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ausrief:
"Der schwarze Gehrock ist doch das einzig würdige Kleid des Mannes!" Aber
er müßte kein "Aufklärer" sein, um nicht etwas von der Geringschätzung der
Vergangenheit und aller Erinnerung zu zeigen. Er tritt den Kunstwerken eines
Cervantes und Shakespeare mit dem Satze gegenüber: "Durch die Gemischt¬
heit des dauernden mit unzusagendem Inhalt wird die Wirkungsfähigkeit ge¬
ringer, und das Unzusagende muß in dem Maße wachsen, in dem die Denkweise
sich durch bessere Erkenntnisse oder Zustände ändert, sich also das Wissen be¬
richtigt oder das Fühlen veredelt," und macht in dem ganzen Verlauf seines
Buches von diesem Satz den ausgedehntesten und gelegentlich den unberech¬
tigtsten Gebrauch.

(Schluß folgt)




Sedini
i

n der Akademiestraße Ur. 1 hat fast jede Familie ein Zimmer
zu vermieten. Zum Quartalwechsel kocht die Hausfrau einen
Mehlkleister, und dann geht sie in der Dämmerung mit der
Tochter aus. Die Tochter trägt ein Bündelchen Zettel in der
Hand, auf die wacklige Buchstaben gemalt sind. Die Mutter hat
den Kleistertopf im Arm und den Zipfel ihres Tuchs darübergedcckt.

Sie gehen in die Theresienstraße und die Barerstraße hinauf in die Bahnhof¬
gegend. Beim Stachus, wo sich die vielen Pferdebahnen kreuzen und der Schnee
braun und breiig geworden ist, weil man ihn in München liegen läßt, wo er
von Gottes wegen hinfällt, heben sie die Röcke auf und waten durch. Sie
kommen bis zum Frauenplatz und zur Löwengrube, und überall, wo eine Dach¬
rinne vom Hause herunterleitet und den Spülicht vom Dach auf den Bürger¬
steig gießt, halten sie an. Jede solche Regenrinne ist an ihrer Mündung von


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nicht unerhörte, aber in diesem besondern Falle geradezu unglückselige Über¬
schätzung dessen, was man öffentliches Leben nennt, gegenüber allem, was
er Privatleben nennt, in Dühring lebendig zu sein, er scheint kein Organ
für die Fülle, den Reichtum, den unversieglichen Lebensquell dieses verachteten
Privatlebens für die Poesie zu haben. Endlich verwahrt sich zwar Dühring
sehr energisch dagegen, irgend welchen Äußerlichkeiten großes Gewicht beizu¬
legen, und teilt sicher nicht den Standpunkt jenes Bankiers, der beim Betrachten
von Kostümbildcrn aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ausrief:
„Der schwarze Gehrock ist doch das einzig würdige Kleid des Mannes!" Aber
er müßte kein „Aufklärer" sein, um nicht etwas von der Geringschätzung der
Vergangenheit und aller Erinnerung zu zeigen. Er tritt den Kunstwerken eines
Cervantes und Shakespeare mit dem Satze gegenüber: „Durch die Gemischt¬
heit des dauernden mit unzusagendem Inhalt wird die Wirkungsfähigkeit ge¬
ringer, und das Unzusagende muß in dem Maße wachsen, in dem die Denkweise
sich durch bessere Erkenntnisse oder Zustände ändert, sich also das Wissen be¬
richtigt oder das Fühlen veredelt," und macht in dem ganzen Verlauf seines
Buches von diesem Satz den ausgedehntesten und gelegentlich den unberech¬
tigtsten Gebrauch.

(Schluß folgt)




Sedini
i

n der Akademiestraße Ur. 1 hat fast jede Familie ein Zimmer
zu vermieten. Zum Quartalwechsel kocht die Hausfrau einen
Mehlkleister, und dann geht sie in der Dämmerung mit der
Tochter aus. Die Tochter trägt ein Bündelchen Zettel in der
Hand, auf die wacklige Buchstaben gemalt sind. Die Mutter hat
den Kleistertopf im Arm und den Zipfel ihres Tuchs darübergedcckt.

Sie gehen in die Theresienstraße und die Barerstraße hinauf in die Bahnhof¬
gegend. Beim Stachus, wo sich die vielen Pferdebahnen kreuzen und der Schnee
braun und breiig geworden ist, weil man ihn in München liegen läßt, wo er
von Gottes wegen hinfällt, heben sie die Röcke auf und waten durch. Sie
kommen bis zum Frauenplatz und zur Löwengrube, und überall, wo eine Dach¬
rinne vom Hause herunterleitet und den Spülicht vom Dach auf den Bürger¬
steig gießt, halten sie an. Jede solche Regenrinne ist an ihrer Mündung von


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[0050] Sedini nicht unerhörte, aber in diesem besondern Falle geradezu unglückselige Über¬ schätzung dessen, was man öffentliches Leben nennt, gegenüber allem, was er Privatleben nennt, in Dühring lebendig zu sein, er scheint kein Organ für die Fülle, den Reichtum, den unversieglichen Lebensquell dieses verachteten Privatlebens für die Poesie zu haben. Endlich verwahrt sich zwar Dühring sehr energisch dagegen, irgend welchen Äußerlichkeiten großes Gewicht beizu¬ legen, und teilt sicher nicht den Standpunkt jenes Bankiers, der beim Betrachten von Kostümbildcrn aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ausrief: „Der schwarze Gehrock ist doch das einzig würdige Kleid des Mannes!" Aber er müßte kein „Aufklärer" sein, um nicht etwas von der Geringschätzung der Vergangenheit und aller Erinnerung zu zeigen. Er tritt den Kunstwerken eines Cervantes und Shakespeare mit dem Satze gegenüber: „Durch die Gemischt¬ heit des dauernden mit unzusagendem Inhalt wird die Wirkungsfähigkeit ge¬ ringer, und das Unzusagende muß in dem Maße wachsen, in dem die Denkweise sich durch bessere Erkenntnisse oder Zustände ändert, sich also das Wissen be¬ richtigt oder das Fühlen veredelt," und macht in dem ganzen Verlauf seines Buches von diesem Satz den ausgedehntesten und gelegentlich den unberech¬ tigtsten Gebrauch. (Schluß folgt) Sedini i n der Akademiestraße Ur. 1 hat fast jede Familie ein Zimmer zu vermieten. Zum Quartalwechsel kocht die Hausfrau einen Mehlkleister, und dann geht sie in der Dämmerung mit der Tochter aus. Die Tochter trägt ein Bündelchen Zettel in der Hand, auf die wacklige Buchstaben gemalt sind. Die Mutter hat den Kleistertopf im Arm und den Zipfel ihres Tuchs darübergedcckt. Sie gehen in die Theresienstraße und die Barerstraße hinauf in die Bahnhof¬ gegend. Beim Stachus, wo sich die vielen Pferdebahnen kreuzen und der Schnee braun und breiig geworden ist, weil man ihn in München liegen läßt, wo er von Gottes wegen hinfällt, heben sie die Röcke auf und waten durch. Sie kommen bis zum Frauenplatz und zur Löwengrube, und überall, wo eine Dach¬ rinne vom Hause herunterleitet und den Spülicht vom Dach auf den Bürger¬ steig gießt, halten sie an. Jede solche Regenrinne ist an ihrer Mündung von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/50>, abgerufen am 24.08.2024.