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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

rung und Geschichte sind nicht dazu da, ich will nicht sagen, sich an jedem
Quark, sondern sich auch nur an jeder zeitweiligen Namhaftigkeit auf die Dauer
zu versehen und mit ihr die menschliche Teilnahme zu belästigen. Letztere ist
ohnedies mit Traditionen genug, ja davon überhäuft; mau muß ausmerzen,
die übrig bleibenden Werte sorgfältig ordnen und das Maß des Interesses
darnach einrichten." Wir zweifeln nicht, daß der Verfasser des guten Glaubens
lebt, auf seinem Wege das allgemeine Beste zu fördern, wenn er als Vertreter
einer gleichzeitig "antireligionischen (!), antimetaphysischen und antipolitischer
Emanzipation" die gesamte Dichtung und die Dichtercharaktere der Neuzeit dar¬
nach beurteilt, wie weit sie zu diesen Zwecken mitgewirkt haben. Wichtiger ist
es, zu ergründen, wie es möglich ist, daß Dühring auch nur einen Augenblick
glauben kann, seine subjektiven Anschauungen in allgemeinere zu verwandeln,
den Widerstand, der nicht nur in historisch-ästhetischen Überlieferungen, sondern
in den elementaren Bedürfnissen der menschlichen Natur begründet ist und auf
den er treffen muß, so zu unterschätzen und sich Leser und Schiller vorzu¬
stellen, die die tiefreichendeu und merkwürdigen Widersprüche, die das Buch
durchziehen, überhaupt nicht wahrnehmen. Ein ernster Geist, wie Dühring ist,
kann sich doch nicht darüber täuschen, daß das Veifalljauchzen der ungeheuern
Mehrzahl der Religionslosen und Neligionsverächtcr unsrer Tage für ihn nichts
bedeuten will. Diese Mehrzahl wünscht die religiöse Anschauung uur abzu¬
streifen, um jede sittliche Forderung mit über Bord zu werfen, Dühring ver¬
schärft und erhöht die sittlichen Forderungen im stärksten Maße. Und sein
Antihebräismus, wie er es nennt, mag wohl antisemitischen Nadaublättern als
Rüstkammer erscheinen, ihr Pfeile und Keulen gegen eine Anzahl jüdischer
Schriftsteller und verächtlicher Journalisten zu entnehmen, aber die Masse der
Partei denkt doch nicht daran, sich die Dühringschen Maßstäbe für die Messung
ihrer Walhallagrößen anzueignen. Der Verfciffer muß also im Ernst glauben,
daß ihm ein großer Zug der allgemeinen Geistesentwicklung Recht geben, ihm
zum Siege über den ästhetischen Trug verhelfen werde, der ihm als eine andre
und gefährlichere Art von Pfaffentrug gilt.

Soviel wir sehen können, sind es namentlich drei Grundanschauungen,
von denen der Verfasser bei seiner vernichtenden oder sagen wir mit ihm "auf¬
räumenden" Kritik der modernen poetischen Litteratur erfüllt ist. Er legt, so
sehr er sich auch dagegen verwahren mag, der Dichtung gegenüber dein, was
in seinem Sinne Philosophie, in seinem Sinne Wissenschaft ist, ein verhältnis¬
mäßig geringes Gewicht bei und ist vollkommen überzeugt, daß sich dies Ge¬
wicht noch unablässig mindern müsse. Ihm ist "die ganze Poesie, wie sie
weltgeschichtlich vor uns liegt, sozusagen zu nenuhuudertneunundneunzig Teilen
eine Kinderei. Diese Kindheitsthatsache der Menschheit berechtigt aber nicht,
die Albernheiten dieses Spiels in alle Zeitalter fortzusetzen und nie zu reifen."
Sodann scheint ein starker Drang der Wirkung für das öffentliche Leben, eine


Grenzboten II 1L95 g
Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

rung und Geschichte sind nicht dazu da, ich will nicht sagen, sich an jedem
Quark, sondern sich auch nur an jeder zeitweiligen Namhaftigkeit auf die Dauer
zu versehen und mit ihr die menschliche Teilnahme zu belästigen. Letztere ist
ohnedies mit Traditionen genug, ja davon überhäuft; mau muß ausmerzen,
die übrig bleibenden Werte sorgfältig ordnen und das Maß des Interesses
darnach einrichten." Wir zweifeln nicht, daß der Verfasser des guten Glaubens
lebt, auf seinem Wege das allgemeine Beste zu fördern, wenn er als Vertreter
einer gleichzeitig „antireligionischen (!), antimetaphysischen und antipolitischer
Emanzipation" die gesamte Dichtung und die Dichtercharaktere der Neuzeit dar¬
nach beurteilt, wie weit sie zu diesen Zwecken mitgewirkt haben. Wichtiger ist
es, zu ergründen, wie es möglich ist, daß Dühring auch nur einen Augenblick
glauben kann, seine subjektiven Anschauungen in allgemeinere zu verwandeln,
den Widerstand, der nicht nur in historisch-ästhetischen Überlieferungen, sondern
in den elementaren Bedürfnissen der menschlichen Natur begründet ist und auf
den er treffen muß, so zu unterschätzen und sich Leser und Schiller vorzu¬
stellen, die die tiefreichendeu und merkwürdigen Widersprüche, die das Buch
durchziehen, überhaupt nicht wahrnehmen. Ein ernster Geist, wie Dühring ist,
kann sich doch nicht darüber täuschen, daß das Veifalljauchzen der ungeheuern
Mehrzahl der Religionslosen und Neligionsverächtcr unsrer Tage für ihn nichts
bedeuten will. Diese Mehrzahl wünscht die religiöse Anschauung uur abzu¬
streifen, um jede sittliche Forderung mit über Bord zu werfen, Dühring ver¬
schärft und erhöht die sittlichen Forderungen im stärksten Maße. Und sein
Antihebräismus, wie er es nennt, mag wohl antisemitischen Nadaublättern als
Rüstkammer erscheinen, ihr Pfeile und Keulen gegen eine Anzahl jüdischer
Schriftsteller und verächtlicher Journalisten zu entnehmen, aber die Masse der
Partei denkt doch nicht daran, sich die Dühringschen Maßstäbe für die Messung
ihrer Walhallagrößen anzueignen. Der Verfciffer muß also im Ernst glauben,
daß ihm ein großer Zug der allgemeinen Geistesentwicklung Recht geben, ihm
zum Siege über den ästhetischen Trug verhelfen werde, der ihm als eine andre
und gefährlichere Art von Pfaffentrug gilt.

Soviel wir sehen können, sind es namentlich drei Grundanschauungen,
von denen der Verfasser bei seiner vernichtenden oder sagen wir mit ihm „auf¬
räumenden" Kritik der modernen poetischen Litteratur erfüllt ist. Er legt, so
sehr er sich auch dagegen verwahren mag, der Dichtung gegenüber dein, was
in seinem Sinne Philosophie, in seinem Sinne Wissenschaft ist, ein verhältnis¬
mäßig geringes Gewicht bei und ist vollkommen überzeugt, daß sich dies Ge¬
wicht noch unablässig mindern müsse. Ihm ist „die ganze Poesie, wie sie
weltgeschichtlich vor uns liegt, sozusagen zu nenuhuudertneunundneunzig Teilen
eine Kinderei. Diese Kindheitsthatsache der Menschheit berechtigt aber nicht,
die Albernheiten dieses Spiels in alle Zeitalter fortzusetzen und nie zu reifen."
Sodann scheint ein starker Drang der Wirkung für das öffentliche Leben, eine


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[0049] Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur rung und Geschichte sind nicht dazu da, ich will nicht sagen, sich an jedem Quark, sondern sich auch nur an jeder zeitweiligen Namhaftigkeit auf die Dauer zu versehen und mit ihr die menschliche Teilnahme zu belästigen. Letztere ist ohnedies mit Traditionen genug, ja davon überhäuft; mau muß ausmerzen, die übrig bleibenden Werte sorgfältig ordnen und das Maß des Interesses darnach einrichten." Wir zweifeln nicht, daß der Verfasser des guten Glaubens lebt, auf seinem Wege das allgemeine Beste zu fördern, wenn er als Vertreter einer gleichzeitig „antireligionischen (!), antimetaphysischen und antipolitischer Emanzipation" die gesamte Dichtung und die Dichtercharaktere der Neuzeit dar¬ nach beurteilt, wie weit sie zu diesen Zwecken mitgewirkt haben. Wichtiger ist es, zu ergründen, wie es möglich ist, daß Dühring auch nur einen Augenblick glauben kann, seine subjektiven Anschauungen in allgemeinere zu verwandeln, den Widerstand, der nicht nur in historisch-ästhetischen Überlieferungen, sondern in den elementaren Bedürfnissen der menschlichen Natur begründet ist und auf den er treffen muß, so zu unterschätzen und sich Leser und Schiller vorzu¬ stellen, die die tiefreichendeu und merkwürdigen Widersprüche, die das Buch durchziehen, überhaupt nicht wahrnehmen. Ein ernster Geist, wie Dühring ist, kann sich doch nicht darüber täuschen, daß das Veifalljauchzen der ungeheuern Mehrzahl der Religionslosen und Neligionsverächtcr unsrer Tage für ihn nichts bedeuten will. Diese Mehrzahl wünscht die religiöse Anschauung uur abzu¬ streifen, um jede sittliche Forderung mit über Bord zu werfen, Dühring ver¬ schärft und erhöht die sittlichen Forderungen im stärksten Maße. Und sein Antihebräismus, wie er es nennt, mag wohl antisemitischen Nadaublättern als Rüstkammer erscheinen, ihr Pfeile und Keulen gegen eine Anzahl jüdischer Schriftsteller und verächtlicher Journalisten zu entnehmen, aber die Masse der Partei denkt doch nicht daran, sich die Dühringschen Maßstäbe für die Messung ihrer Walhallagrößen anzueignen. Der Verfciffer muß also im Ernst glauben, daß ihm ein großer Zug der allgemeinen Geistesentwicklung Recht geben, ihm zum Siege über den ästhetischen Trug verhelfen werde, der ihm als eine andre und gefährlichere Art von Pfaffentrug gilt. Soviel wir sehen können, sind es namentlich drei Grundanschauungen, von denen der Verfasser bei seiner vernichtenden oder sagen wir mit ihm „auf¬ räumenden" Kritik der modernen poetischen Litteratur erfüllt ist. Er legt, so sehr er sich auch dagegen verwahren mag, der Dichtung gegenüber dein, was in seinem Sinne Philosophie, in seinem Sinne Wissenschaft ist, ein verhältnis¬ mäßig geringes Gewicht bei und ist vollkommen überzeugt, daß sich dies Ge¬ wicht noch unablässig mindern müsse. Ihm ist „die ganze Poesie, wie sie weltgeschichtlich vor uns liegt, sozusagen zu nenuhuudertneunundneunzig Teilen eine Kinderei. Diese Kindheitsthatsache der Menschheit berechtigt aber nicht, die Albernheiten dieses Spiels in alle Zeitalter fortzusetzen und nie zu reifen." Sodann scheint ein starker Drang der Wirkung für das öffentliche Leben, eine Grenzboten II 1L95 g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/49>, abgerufen am 24.08.2024.