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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Flüchtlinge

Worte zu sprechen hat, nicht einem Statisten, wie man hätte fürchten können,
sondern einem stattlichen Sprecher zugeteilt worden war. Wie er die Arme
erhebend ausrief: "Die Götter wachen über euer Los," da war es, als spräche
er einen Segenswunsch über das neue Haus, wo die luftige Phantasie mit
den goldnen Flügeln nun Tag für Tag ihr zartes Spiel treiben soll.




Die Flüchtlinge
Line Geschichte von der Landstraße
(Schlusj)

is Lucie aus ihrer Betäubung erwachte, befand sie sich im Zimmer.
Sie saß auf einem Stuhl neben dem Tische, und Jrauz hielt sie im
Arm. Ihre Blicke suchten angstvoll das Gesicht der Mutter, die neben
ihr stund. Sie wollte aufspringen, sich an ihre Brust flüchten und
dort Ruhe suchen für ihr gequältes Herz, aber sie hatte keine Kraft,
sich zu erhebe", sie war müde zum Sterben. Und "nährend sie noch
mit ihrer Schwäche kämpfte, kam wieder das Bewußtsein ihres ganzen Elends über
sie, sie fühlte, daß sie auch an, Herzen dieser Frau keine Rettung und Hilfe finden
könne, und sie legte den Kopf auf beide Arme und schluchzte laut.

Franz persuadee sauft ihren Kopf von dem Tisch aufzuheben. Was ist ge¬
schehe", Lucie? fragte er ängstlich. So rede doch! Aber sie wehrte ihn von sich ab.

Die Mutter betrachtete sie mit Verwunderung. Mein Gott, was für el"
seltsames Mädchen! dachte sie "ut begann noch einmal ihre Geschichte zu erzählen,
in der Hoffnung, Lucie würde sich wohl zufrieden geben, wenn sie alles wüßte;
aber das Mädchen wurde nicht ruhiger.

Wir habe" sie in unsrer Selbstsucht vergessen, und sie hat sich verlassen ge¬
fühlt, sagte die Mutter endlich zu Franz, der, als alle seine Versuche, Lucie zu
beruhigen oder wenigstens zu einer Aussprache zu bringen, nichts fruchteten, ans
Fenster getreten war und bekümmert hinaussah.

Lucie stand plötzlich auf "ut eilte zur Thür.

Was hast du vor? fragte Franz, indem er sich erstaunt umwandte.

Sie antwortete nicht, sondern schlug die Hände vor das Gesicht.

Franz trat ans sie zu, ergriff ihre Hände und sah ihr voll Liebe nud Sorge
in die Augen. Dn meinst sicher, ich hätte dich vergessen gehabt, sagte er warm,
aber gewiß, ich habe in jedem Augenblick an dich gedacht. Du hast es jn selbst
gewollt, daß ich dich allein lasse" sollte. Fasse dich, Lucie, hast du nicht gehört, was
die Mutter erzählt hat?

Ich habe alles gehört, Franz, und ich wünsche dir Glück, antwortete sie leise.

Du wünschest mir Glück? Geht das Glück nicht auch dich an, Lucie?


Die Flüchtlinge

Worte zu sprechen hat, nicht einem Statisten, wie man hätte fürchten können,
sondern einem stattlichen Sprecher zugeteilt worden war. Wie er die Arme
erhebend ausrief: „Die Götter wachen über euer Los," da war es, als spräche
er einen Segenswunsch über das neue Haus, wo die luftige Phantasie mit
den goldnen Flügeln nun Tag für Tag ihr zartes Spiel treiben soll.




Die Flüchtlinge
Line Geschichte von der Landstraße
(Schlusj)

is Lucie aus ihrer Betäubung erwachte, befand sie sich im Zimmer.
Sie saß auf einem Stuhl neben dem Tische, und Jrauz hielt sie im
Arm. Ihre Blicke suchten angstvoll das Gesicht der Mutter, die neben
ihr stund. Sie wollte aufspringen, sich an ihre Brust flüchten und
dort Ruhe suchen für ihr gequältes Herz, aber sie hatte keine Kraft,
sich zu erhebe», sie war müde zum Sterben. Und »nährend sie noch
mit ihrer Schwäche kämpfte, kam wieder das Bewußtsein ihres ganzen Elends über
sie, sie fühlte, daß sie auch an, Herzen dieser Frau keine Rettung und Hilfe finden
könne, und sie legte den Kopf auf beide Arme und schluchzte laut.

Franz persuadee sauft ihren Kopf von dem Tisch aufzuheben. Was ist ge¬
schehe», Lucie? fragte er ängstlich. So rede doch! Aber sie wehrte ihn von sich ab.

Die Mutter betrachtete sie mit Verwunderung. Mein Gott, was für el»
seltsames Mädchen! dachte sie »ut begann noch einmal ihre Geschichte zu erzählen,
in der Hoffnung, Lucie würde sich wohl zufrieden geben, wenn sie alles wüßte;
aber das Mädchen wurde nicht ruhiger.

Wir habe» sie in unsrer Selbstsucht vergessen, und sie hat sich verlassen ge¬
fühlt, sagte die Mutter endlich zu Franz, der, als alle seine Versuche, Lucie zu
beruhigen oder wenigstens zu einer Aussprache zu bringen, nichts fruchteten, ans
Fenster getreten war und bekümmert hinaussah.

Lucie stand plötzlich auf »ut eilte zur Thür.

Was hast du vor? fragte Franz, indem er sich erstaunt umwandte.

Sie antwortete nicht, sondern schlug die Hände vor das Gesicht.

Franz trat ans sie zu, ergriff ihre Hände und sah ihr voll Liebe nud Sorge
in die Augen. Dn meinst sicher, ich hätte dich vergessen gehabt, sagte er warm,
aber gewiß, ich habe in jedem Augenblick an dich gedacht. Du hast es jn selbst
gewollt, daß ich dich allein lasse» sollte. Fasse dich, Lucie, hast du nicht gehört, was
die Mutter erzählt hat?

Ich habe alles gehört, Franz, und ich wünsche dir Glück, antwortete sie leise.

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[0588] Die Flüchtlinge Worte zu sprechen hat, nicht einem Statisten, wie man hätte fürchten können, sondern einem stattlichen Sprecher zugeteilt worden war. Wie er die Arme erhebend ausrief: „Die Götter wachen über euer Los," da war es, als spräche er einen Segenswunsch über das neue Haus, wo die luftige Phantasie mit den goldnen Flügeln nun Tag für Tag ihr zartes Spiel treiben soll. Die Flüchtlinge Line Geschichte von der Landstraße (Schlusj) is Lucie aus ihrer Betäubung erwachte, befand sie sich im Zimmer. Sie saß auf einem Stuhl neben dem Tische, und Jrauz hielt sie im Arm. Ihre Blicke suchten angstvoll das Gesicht der Mutter, die neben ihr stund. Sie wollte aufspringen, sich an ihre Brust flüchten und dort Ruhe suchen für ihr gequältes Herz, aber sie hatte keine Kraft, sich zu erhebe», sie war müde zum Sterben. Und »nährend sie noch mit ihrer Schwäche kämpfte, kam wieder das Bewußtsein ihres ganzen Elends über sie, sie fühlte, daß sie auch an, Herzen dieser Frau keine Rettung und Hilfe finden könne, und sie legte den Kopf auf beide Arme und schluchzte laut. Franz persuadee sauft ihren Kopf von dem Tisch aufzuheben. Was ist ge¬ schehe», Lucie? fragte er ängstlich. So rede doch! Aber sie wehrte ihn von sich ab. Die Mutter betrachtete sie mit Verwunderung. Mein Gott, was für el» seltsames Mädchen! dachte sie »ut begann noch einmal ihre Geschichte zu erzählen, in der Hoffnung, Lucie würde sich wohl zufrieden geben, wenn sie alles wüßte; aber das Mädchen wurde nicht ruhiger. Wir habe» sie in unsrer Selbstsucht vergessen, und sie hat sich verlassen ge¬ fühlt, sagte die Mutter endlich zu Franz, der, als alle seine Versuche, Lucie zu beruhigen oder wenigstens zu einer Aussprache zu bringen, nichts fruchteten, ans Fenster getreten war und bekümmert hinaussah. Lucie stand plötzlich auf »ut eilte zur Thür. Was hast du vor? fragte Franz, indem er sich erstaunt umwandte. Sie antwortete nicht, sondern schlug die Hände vor das Gesicht. Franz trat ans sie zu, ergriff ihre Hände und sah ihr voll Liebe nud Sorge in die Augen. Dn meinst sicher, ich hätte dich vergessen gehabt, sagte er warm, aber gewiß, ich habe in jedem Augenblick an dich gedacht. Du hast es jn selbst gewollt, daß ich dich allein lasse» sollte. Fasse dich, Lucie, hast du nicht gehört, was die Mutter erzählt hat? Ich habe alles gehört, Franz, und ich wünsche dir Glück, antwortete sie leise. Du wünschest mir Glück? Geht das Glück nicht auch dich an, Lucie?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/588>, abgerufen am 27.06.2024.