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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Worte oder Thaten?

in deutsche" Reichstage wird viel, sehr viel geredet. Aber unter
der Meuge des Geredeten leidet nicht selten seine Güte. Darum
kann man unbedenklich die Bemerkung unterschreiben, die der
Reichskanzler um letzten November im Reichstage machte: "Der
Abgeordnete Liebknecht hat das Wort von Oxenstierna zitirt, daß
es wunderbar sei, mit wie wenig Weisheit die Staaten regiert werden können,
^es glaube, wenn wir den Geist des alten Oxenstierna heute heraufbeschwören
und in diese Versammlung hätten bringen können, so würde er bei den Reden
der beiden letzten Redner sich vielleicht dahin ausgedrückt haben: es ist wun¬
derbar, mit wie wenig Weisheit Reden im deutschen Parlament gehalten
werden können." Nur würden wir unsre Unterschrift von der Bedingung ab¬
hängig machen, daß uns der Reichskanzler erlaubte, die Bemerkung diesmal auch
"uf seine eigne Rede auszudehnen. Deal was der leitende Staatsmann über
die neueste Bewegung unsers Gesellschaftslebens geäußert hat, scheint wirklich
keine wesentlich höhere Staatsweisheit zu sein, als die Abgeordneten verzapfen.
Im Verlauf seiner Rede führte nämlich der Kanzler aus, der Antisemitismus
sei eine Vorfrucht der Sozialdemokratie. "Alles Aussäen der Unzufriedenheit
kommt heute nur der Sozialdemokratie zu gute, sie hat den breitesten Strom,
und all die kleinen Bäche, die von Ihnen jm den Antisemiten! ausgehen,
stießen in diesen Strom. Sie sind nicht die Männer, diese Bewegungen, wenn
es auch nur kleine Bäche sind, aufzuhalten. Die Bewegung geht weiter, und
die große Unzufriedenheit, die in den Sammelbassins aufgespeichert wird, kommt
lchlieszlich den Sozialdemokraten zu gute. Ihre Bewegung begann mit einer
-lgitation gegen die Juden. Dabei sind Sie aber nicht lange stehen geblieben;
^ne hatten dann nicht nur die Juden vor, sondern Sie suchten nach einem,
der einen jüdischen Vater hat oder eine jüdische Frau, diese verfolgten Sie


Grenzbow, IV 1898 70


Worte oder Thaten?

in deutsche» Reichstage wird viel, sehr viel geredet. Aber unter
der Meuge des Geredeten leidet nicht selten seine Güte. Darum
kann man unbedenklich die Bemerkung unterschreiben, die der
Reichskanzler um letzten November im Reichstage machte: „Der
Abgeordnete Liebknecht hat das Wort von Oxenstierna zitirt, daß
es wunderbar sei, mit wie wenig Weisheit die Staaten regiert werden können,
^es glaube, wenn wir den Geist des alten Oxenstierna heute heraufbeschwören
und in diese Versammlung hätten bringen können, so würde er bei den Reden
der beiden letzten Redner sich vielleicht dahin ausgedrückt haben: es ist wun¬
derbar, mit wie wenig Weisheit Reden im deutschen Parlament gehalten
werden können." Nur würden wir unsre Unterschrift von der Bedingung ab¬
hängig machen, daß uns der Reichskanzler erlaubte, die Bemerkung diesmal auch
"uf seine eigne Rede auszudehnen. Deal was der leitende Staatsmann über
die neueste Bewegung unsers Gesellschaftslebens geäußert hat, scheint wirklich
keine wesentlich höhere Staatsweisheit zu sein, als die Abgeordneten verzapfen.
Im Verlauf seiner Rede führte nämlich der Kanzler aus, der Antisemitismus
sei eine Vorfrucht der Sozialdemokratie. „Alles Aussäen der Unzufriedenheit
kommt heute nur der Sozialdemokratie zu gute, sie hat den breitesten Strom,
und all die kleinen Bäche, die von Ihnen jm den Antisemiten! ausgehen,
stießen in diesen Strom. Sie sind nicht die Männer, diese Bewegungen, wenn
es auch nur kleine Bäche sind, aufzuhalten. Die Bewegung geht weiter, und
die große Unzufriedenheit, die in den Sammelbassins aufgespeichert wird, kommt
lchlieszlich den Sozialdemokraten zu gute. Ihre Bewegung begann mit einer
-lgitation gegen die Juden. Dabei sind Sie aber nicht lange stehen geblieben;
^ne hatten dann nicht nur die Juden vor, sondern Sie suchten nach einem,
der einen jüdischen Vater hat oder eine jüdische Frau, diese verfolgten Sie


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[0561] [Abbildung] Worte oder Thaten? in deutsche» Reichstage wird viel, sehr viel geredet. Aber unter der Meuge des Geredeten leidet nicht selten seine Güte. Darum kann man unbedenklich die Bemerkung unterschreiben, die der Reichskanzler um letzten November im Reichstage machte: „Der Abgeordnete Liebknecht hat das Wort von Oxenstierna zitirt, daß es wunderbar sei, mit wie wenig Weisheit die Staaten regiert werden können, ^es glaube, wenn wir den Geist des alten Oxenstierna heute heraufbeschwören und in diese Versammlung hätten bringen können, so würde er bei den Reden der beiden letzten Redner sich vielleicht dahin ausgedrückt haben: es ist wun¬ derbar, mit wie wenig Weisheit Reden im deutschen Parlament gehalten werden können." Nur würden wir unsre Unterschrift von der Bedingung ab¬ hängig machen, daß uns der Reichskanzler erlaubte, die Bemerkung diesmal auch "uf seine eigne Rede auszudehnen. Deal was der leitende Staatsmann über die neueste Bewegung unsers Gesellschaftslebens geäußert hat, scheint wirklich keine wesentlich höhere Staatsweisheit zu sein, als die Abgeordneten verzapfen. Im Verlauf seiner Rede führte nämlich der Kanzler aus, der Antisemitismus sei eine Vorfrucht der Sozialdemokratie. „Alles Aussäen der Unzufriedenheit kommt heute nur der Sozialdemokratie zu gute, sie hat den breitesten Strom, und all die kleinen Bäche, die von Ihnen jm den Antisemiten! ausgehen, stießen in diesen Strom. Sie sind nicht die Männer, diese Bewegungen, wenn es auch nur kleine Bäche sind, aufzuhalten. Die Bewegung geht weiter, und die große Unzufriedenheit, die in den Sammelbassins aufgespeichert wird, kommt lchlieszlich den Sozialdemokraten zu gute. Ihre Bewegung begann mit einer -lgitation gegen die Juden. Dabei sind Sie aber nicht lange stehen geblieben; ^ne hatten dann nicht nur die Juden vor, sondern Sie suchten nach einem, der einen jüdischen Vater hat oder eine jüdische Frau, diese verfolgten Sie Grenzbow, IV 1898 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/561>, abgerufen am 27.06.2024.