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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

unsre Freude nicht der ästhetischen Schicht unsrer Seele, sondern einer, die tiefer
unter liegt. Aber das Hügelland und die Ebne empfangen ihre höchste Schönheit
erst von der ordnenden Menschenhand. Was ist wohl schöner: ein wogendes
Meer grüner Saaten, umsnnmt von blühenden Obstgärten, ans denen weiße Häuschen
hervorlugen, oder der Sumpf, der ausgetrocknet werden mußte, ehe dieses Paradies
geschaffen werden konnte? Ein Seeufer, das mit Villen und Gärten bedeckt ist,
und dessen Paläste sich mit ihren Säulenhallen in den Wellen spiegeln, oder eine
Schilf- und Kieswüste? Ein Wald struppiger Kiefern, oder ein Park voll edel-
geformter, feinlaubiger Bäume, deren mannichfaltiges Griin die schönsten Farben¬
spiele hervorbringt, mit saftiggrünen Rasenplätzen, eingestreuten Teppichbeeten und
kleinen Teichen? Die Kette der mannichfachen Naturschönheiten hat zwei Pole:
an dem einen Ende die Berg- und Eiswüste, am andern die Menschengestalt und
das Menschenantlitz. Dort das Erhabenste, hier das Lieblichste. Dort die reine
Körperlichkeit, den höchsten Geist zwar verkündend, selbst aber völlig geiht- und
seelenlos und durch ihre Größe und Unbezwiugbarkeit bei völliger Vernunft- und
Fühllosigkeit den menschlichen Beschauer erdrückend, wenn er von andern Menschen
abgeschnitten, allein darin umherirrt. (Weshalb mich das Erhebende dieses Erhabnen
den Menschen erst zum Bewußtsein kommen konnte, nachdem die Gefahr dnrch
Wegebau und Verkehrswesen überwunden war.) Hier der lebendige Geist, der
nur noch eines winzigen Klümpchens körperlichen Stoffs bedarf, sich zu äußern,
eine Seele, in der der Beschmier sich selbst wiederfindet. Mitten inne zwischen
diesen beiden liegt die Schönheit der von dem Menschen beherrschten und gestalteten
Natur, das Stück Natur, dem der Menschengeist das Siegel aufgedrückt hat.

Was aber die Städte anlangt, so ist es zwar wieder richtig, daß Millionen¬
stadt und Schönheit einander in gewissem Grade ausschließen, und daß die heute
beliebte Bauweise unästhetisch ist, aber von den grünen Plätzen in ihrem Innern
denke ich doch nicht so geringschätzig wie unser Naturfreund. Die Anlagen Leipzigs
z. B. machen die Stadt nicht bloß "weniger häßlich," sondern stellenweise wirklich
schön. Welche Wohlthat, nicht bloß für die Lungen, sondern auch für die Augen
die Anlagen sind, mit denen sich heutzutage wohl jede Stadt und jedes Städtlein
in Deutschland schmückt, das merkt man erst in manchen italienischen Städten, die
zwar bei kurzem Verweilen dnrch architektonische Schönheit entzücken, bei längerem
Aufenthalt aber dem Deutschen wie steinerne Gräber vorkommen müssen, weil sie
des frischen Grüns im Innern fast gänzlich entbehren und auch vorm Thore nnr
kümmerliche Anlagen unterhalten, die mehr grau als grün aussehen.




Litteratur
Das Gefühl. Eine psychologische Untersuchung von Dr. Theobald Ziegler, Professor
der Philosophie an der Universität Strasilmrg. Stuttgart, G. I. Gösche!,, I89L

Die Philosophie -- meint der Verfasser in der Einleitung - sei auf dem
besten Wege gewesen, in dem einseitigen Streben nach der Lösung des erkenntnis-


Litteratur

unsre Freude nicht der ästhetischen Schicht unsrer Seele, sondern einer, die tiefer
unter liegt. Aber das Hügelland und die Ebne empfangen ihre höchste Schönheit
erst von der ordnenden Menschenhand. Was ist wohl schöner: ein wogendes
Meer grüner Saaten, umsnnmt von blühenden Obstgärten, ans denen weiße Häuschen
hervorlugen, oder der Sumpf, der ausgetrocknet werden mußte, ehe dieses Paradies
geschaffen werden konnte? Ein Seeufer, das mit Villen und Gärten bedeckt ist,
und dessen Paläste sich mit ihren Säulenhallen in den Wellen spiegeln, oder eine
Schilf- und Kieswüste? Ein Wald struppiger Kiefern, oder ein Park voll edel-
geformter, feinlaubiger Bäume, deren mannichfaltiges Griin die schönsten Farben¬
spiele hervorbringt, mit saftiggrünen Rasenplätzen, eingestreuten Teppichbeeten und
kleinen Teichen? Die Kette der mannichfachen Naturschönheiten hat zwei Pole:
an dem einen Ende die Berg- und Eiswüste, am andern die Menschengestalt und
das Menschenantlitz. Dort das Erhabenste, hier das Lieblichste. Dort die reine
Körperlichkeit, den höchsten Geist zwar verkündend, selbst aber völlig geiht- und
seelenlos und durch ihre Größe und Unbezwiugbarkeit bei völliger Vernunft- und
Fühllosigkeit den menschlichen Beschauer erdrückend, wenn er von andern Menschen
abgeschnitten, allein darin umherirrt. (Weshalb mich das Erhebende dieses Erhabnen
den Menschen erst zum Bewußtsein kommen konnte, nachdem die Gefahr dnrch
Wegebau und Verkehrswesen überwunden war.) Hier der lebendige Geist, der
nur noch eines winzigen Klümpchens körperlichen Stoffs bedarf, sich zu äußern,
eine Seele, in der der Beschmier sich selbst wiederfindet. Mitten inne zwischen
diesen beiden liegt die Schönheit der von dem Menschen beherrschten und gestalteten
Natur, das Stück Natur, dem der Menschengeist das Siegel aufgedrückt hat.

Was aber die Städte anlangt, so ist es zwar wieder richtig, daß Millionen¬
stadt und Schönheit einander in gewissem Grade ausschließen, und daß die heute
beliebte Bauweise unästhetisch ist, aber von den grünen Plätzen in ihrem Innern
denke ich doch nicht so geringschätzig wie unser Naturfreund. Die Anlagen Leipzigs
z. B. machen die Stadt nicht bloß „weniger häßlich," sondern stellenweise wirklich
schön. Welche Wohlthat, nicht bloß für die Lungen, sondern auch für die Augen
die Anlagen sind, mit denen sich heutzutage wohl jede Stadt und jedes Städtlein
in Deutschland schmückt, das merkt man erst in manchen italienischen Städten, die
zwar bei kurzem Verweilen dnrch architektonische Schönheit entzücken, bei längerem
Aufenthalt aber dem Deutschen wie steinerne Gräber vorkommen müssen, weil sie
des frischen Grüns im Innern fast gänzlich entbehren und auch vorm Thore nnr
kümmerliche Anlagen unterhalten, die mehr grau als grün aussehen.




Litteratur
Das Gefühl. Eine psychologische Untersuchung von Dr. Theobald Ziegler, Professor
der Philosophie an der Universität Strasilmrg. Stuttgart, G. I. Gösche!,, I89L

Die Philosophie — meint der Verfasser in der Einleitung - sei auf dem
besten Wege gewesen, in dem einseitigen Streben nach der Lösung des erkenntnis-


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[0052] Litteratur unsre Freude nicht der ästhetischen Schicht unsrer Seele, sondern einer, die tiefer unter liegt. Aber das Hügelland und die Ebne empfangen ihre höchste Schönheit erst von der ordnenden Menschenhand. Was ist wohl schöner: ein wogendes Meer grüner Saaten, umsnnmt von blühenden Obstgärten, ans denen weiße Häuschen hervorlugen, oder der Sumpf, der ausgetrocknet werden mußte, ehe dieses Paradies geschaffen werden konnte? Ein Seeufer, das mit Villen und Gärten bedeckt ist, und dessen Paläste sich mit ihren Säulenhallen in den Wellen spiegeln, oder eine Schilf- und Kieswüste? Ein Wald struppiger Kiefern, oder ein Park voll edel- geformter, feinlaubiger Bäume, deren mannichfaltiges Griin die schönsten Farben¬ spiele hervorbringt, mit saftiggrünen Rasenplätzen, eingestreuten Teppichbeeten und kleinen Teichen? Die Kette der mannichfachen Naturschönheiten hat zwei Pole: an dem einen Ende die Berg- und Eiswüste, am andern die Menschengestalt und das Menschenantlitz. Dort das Erhabenste, hier das Lieblichste. Dort die reine Körperlichkeit, den höchsten Geist zwar verkündend, selbst aber völlig geiht- und seelenlos und durch ihre Größe und Unbezwiugbarkeit bei völliger Vernunft- und Fühllosigkeit den menschlichen Beschauer erdrückend, wenn er von andern Menschen abgeschnitten, allein darin umherirrt. (Weshalb mich das Erhebende dieses Erhabnen den Menschen erst zum Bewußtsein kommen konnte, nachdem die Gefahr dnrch Wegebau und Verkehrswesen überwunden war.) Hier der lebendige Geist, der nur noch eines winzigen Klümpchens körperlichen Stoffs bedarf, sich zu äußern, eine Seele, in der der Beschmier sich selbst wiederfindet. Mitten inne zwischen diesen beiden liegt die Schönheit der von dem Menschen beherrschten und gestalteten Natur, das Stück Natur, dem der Menschengeist das Siegel aufgedrückt hat. Was aber die Städte anlangt, so ist es zwar wieder richtig, daß Millionen¬ stadt und Schönheit einander in gewissem Grade ausschließen, und daß die heute beliebte Bauweise unästhetisch ist, aber von den grünen Plätzen in ihrem Innern denke ich doch nicht so geringschätzig wie unser Naturfreund. Die Anlagen Leipzigs z. B. machen die Stadt nicht bloß „weniger häßlich," sondern stellenweise wirklich schön. Welche Wohlthat, nicht bloß für die Lungen, sondern auch für die Augen die Anlagen sind, mit denen sich heutzutage wohl jede Stadt und jedes Städtlein in Deutschland schmückt, das merkt man erst in manchen italienischen Städten, die zwar bei kurzem Verweilen dnrch architektonische Schönheit entzücken, bei längerem Aufenthalt aber dem Deutschen wie steinerne Gräber vorkommen müssen, weil sie des frischen Grüns im Innern fast gänzlich entbehren und auch vorm Thore nnr kümmerliche Anlagen unterhalten, die mehr grau als grün aussehen. Litteratur Das Gefühl. Eine psychologische Untersuchung von Dr. Theobald Ziegler, Professor der Philosophie an der Universität Strasilmrg. Stuttgart, G. I. Gösche!,, I89L Die Philosophie — meint der Verfasser in der Einleitung - sei auf dem besten Wege gewesen, in dem einseitigen Streben nach der Lösung des erkenntnis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/52>, abgerufen am 27.06.2024.