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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

Schulwesens, die im ersten Viertel unsers Jahrhunderts in allen deutschen
Staaten, vor allem in Preußen unter der Führung W. v. Humboldts, des
Freundes Schillers und F. A. Wolfs, durchgeführt wurde. Das Griechische,
das vorher in den Gelehrtenschulen nur die Stellung eines nebensächlichen,
für den Theologen aus bestimmten Ursachen notwendigen Unterrichtsgegen¬
standes eingenommen hatte, wurde jetzt zu einem wesentlichen und unerläßlichen
Stück des Ghmnasialunterrichts. Ja ein Enthusiast wie der jugendliche Passow
stellte in allem Ernst die Forderung, daß die ganze deutsche Jugend, vom Prinzen
bis zum Tagelöhnersohn, die griechische Sprache erlerne. Natürlich; bedeutet
Bildung, wirklich menschliche Bildung, so leben, denken und empfinden wie
Griechen, und ist für uns nordische Barbaren dies nur in dem Verkehr mit
dem griechischen Geist in den griechischen Schriftstellern erreichbar, wie dürfte
man dann irgend einem Menschenkinde das Mittel eigentlicher Menschwerdung
vorenthalten? Dieser Enthusiasmus ist in unsern Tagen verschwunden, ge¬
blieben ist davon die harte Forderung, daß zum Studium auf einer deutschen
Universität ohne Einschränkung nur zugelassen wird, wer in der Reifeprüfung
den Besitz der Elemente der griechischen Sprache nachgewiesen hat. Es ist das
Verhängnis, daß die Ideale eines Zeitalters zu Vervrdnuugsparagraphen des
folgenden werden.^)


3

Versuchen wir nun, den Begriff der Bildung aus der Natur der Sache
zu entwickeln.

Nach der Etymologie bedeutet Bildung allgemein die Gestaltung eines
Stoffs durch eine vorher seiende Form oder ein Bild, im besondern die von
innen heraus sich vollziehende Entwicklung eines organischen Wesens aus der
noch unbestimmten Anlage zur vollendeten Gestalt, dann auch diese Gestalt
selbst; sie entspricht insofern dem Aristotelischen Begriff der Entelechie: die
zur vollendeten, das Wesen der Art darstellenden Gestalt entwickelte An¬
lage. Ein gebildeter Mensch wäre demnach ein Mensch, der den Typus
oder das Wesen des Menschen in voller und reiner Entfaltung darstellt. Da
bei der Schätzung des Menschen das Hauptgewicht auf das Innenleben fällt,
und da dieses nur durch die erziehende Einwirkung der elterlichen Generation
zu voller Entwicklung kommt, so können wir nun so sagen: gebildet ist ein
Mensch, in dem durch Erziehung und Unterricht die menschliche Anlage zu einer
das menschlich-geistige Wesen rein und voll darstellenden individuellen Gestalt
entwickelt ist.



*) Den Leser, der diesen Dingen weiter nachgehen will, verweise ich auf die aus¬
führliche Darstellung, die ich im dritten Buche meiner "Geschichte des gelehrten Unterrichts aus
den deuischen Schulen und Universitäten" sowohl von der geistigen Bewegung des Neuhuma-
nismus, als von der Neugestaltung des Schulwesens ans Grund dieser Ideen, endlich von
den Gegenstrebungen in neuerer Zeit gegeben habe.
Bildung

Schulwesens, die im ersten Viertel unsers Jahrhunderts in allen deutschen
Staaten, vor allem in Preußen unter der Führung W. v. Humboldts, des
Freundes Schillers und F. A. Wolfs, durchgeführt wurde. Das Griechische,
das vorher in den Gelehrtenschulen nur die Stellung eines nebensächlichen,
für den Theologen aus bestimmten Ursachen notwendigen Unterrichtsgegen¬
standes eingenommen hatte, wurde jetzt zu einem wesentlichen und unerläßlichen
Stück des Ghmnasialunterrichts. Ja ein Enthusiast wie der jugendliche Passow
stellte in allem Ernst die Forderung, daß die ganze deutsche Jugend, vom Prinzen
bis zum Tagelöhnersohn, die griechische Sprache erlerne. Natürlich; bedeutet
Bildung, wirklich menschliche Bildung, so leben, denken und empfinden wie
Griechen, und ist für uns nordische Barbaren dies nur in dem Verkehr mit
dem griechischen Geist in den griechischen Schriftstellern erreichbar, wie dürfte
man dann irgend einem Menschenkinde das Mittel eigentlicher Menschwerdung
vorenthalten? Dieser Enthusiasmus ist in unsern Tagen verschwunden, ge¬
blieben ist davon die harte Forderung, daß zum Studium auf einer deutschen
Universität ohne Einschränkung nur zugelassen wird, wer in der Reifeprüfung
den Besitz der Elemente der griechischen Sprache nachgewiesen hat. Es ist das
Verhängnis, daß die Ideale eines Zeitalters zu Vervrdnuugsparagraphen des
folgenden werden.^)


3

Versuchen wir nun, den Begriff der Bildung aus der Natur der Sache
zu entwickeln.

Nach der Etymologie bedeutet Bildung allgemein die Gestaltung eines
Stoffs durch eine vorher seiende Form oder ein Bild, im besondern die von
innen heraus sich vollziehende Entwicklung eines organischen Wesens aus der
noch unbestimmten Anlage zur vollendeten Gestalt, dann auch diese Gestalt
selbst; sie entspricht insofern dem Aristotelischen Begriff der Entelechie: die
zur vollendeten, das Wesen der Art darstellenden Gestalt entwickelte An¬
lage. Ein gebildeter Mensch wäre demnach ein Mensch, der den Typus
oder das Wesen des Menschen in voller und reiner Entfaltung darstellt. Da
bei der Schätzung des Menschen das Hauptgewicht auf das Innenleben fällt,
und da dieses nur durch die erziehende Einwirkung der elterlichen Generation
zu voller Entwicklung kommt, so können wir nun so sagen: gebildet ist ein
Mensch, in dem durch Erziehung und Unterricht die menschliche Anlage zu einer
das menschlich-geistige Wesen rein und voll darstellenden individuellen Gestalt
entwickelt ist.



*) Den Leser, der diesen Dingen weiter nachgehen will, verweise ich auf die aus¬
führliche Darstellung, die ich im dritten Buche meiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts aus
den deuischen Schulen und Universitäten" sowohl von der geistigen Bewegung des Neuhuma-
nismus, als von der Neugestaltung des Schulwesens ans Grund dieser Ideen, endlich von
den Gegenstrebungen in neuerer Zeit gegeben habe.
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[0428] Bildung Schulwesens, die im ersten Viertel unsers Jahrhunderts in allen deutschen Staaten, vor allem in Preußen unter der Führung W. v. Humboldts, des Freundes Schillers und F. A. Wolfs, durchgeführt wurde. Das Griechische, das vorher in den Gelehrtenschulen nur die Stellung eines nebensächlichen, für den Theologen aus bestimmten Ursachen notwendigen Unterrichtsgegen¬ standes eingenommen hatte, wurde jetzt zu einem wesentlichen und unerläßlichen Stück des Ghmnasialunterrichts. Ja ein Enthusiast wie der jugendliche Passow stellte in allem Ernst die Forderung, daß die ganze deutsche Jugend, vom Prinzen bis zum Tagelöhnersohn, die griechische Sprache erlerne. Natürlich; bedeutet Bildung, wirklich menschliche Bildung, so leben, denken und empfinden wie Griechen, und ist für uns nordische Barbaren dies nur in dem Verkehr mit dem griechischen Geist in den griechischen Schriftstellern erreichbar, wie dürfte man dann irgend einem Menschenkinde das Mittel eigentlicher Menschwerdung vorenthalten? Dieser Enthusiasmus ist in unsern Tagen verschwunden, ge¬ blieben ist davon die harte Forderung, daß zum Studium auf einer deutschen Universität ohne Einschränkung nur zugelassen wird, wer in der Reifeprüfung den Besitz der Elemente der griechischen Sprache nachgewiesen hat. Es ist das Verhängnis, daß die Ideale eines Zeitalters zu Vervrdnuugsparagraphen des folgenden werden.^) 3 Versuchen wir nun, den Begriff der Bildung aus der Natur der Sache zu entwickeln. Nach der Etymologie bedeutet Bildung allgemein die Gestaltung eines Stoffs durch eine vorher seiende Form oder ein Bild, im besondern die von innen heraus sich vollziehende Entwicklung eines organischen Wesens aus der noch unbestimmten Anlage zur vollendeten Gestalt, dann auch diese Gestalt selbst; sie entspricht insofern dem Aristotelischen Begriff der Entelechie: die zur vollendeten, das Wesen der Art darstellenden Gestalt entwickelte An¬ lage. Ein gebildeter Mensch wäre demnach ein Mensch, der den Typus oder das Wesen des Menschen in voller und reiner Entfaltung darstellt. Da bei der Schätzung des Menschen das Hauptgewicht auf das Innenleben fällt, und da dieses nur durch die erziehende Einwirkung der elterlichen Generation zu voller Entwicklung kommt, so können wir nun so sagen: gebildet ist ein Mensch, in dem durch Erziehung und Unterricht die menschliche Anlage zu einer das menschlich-geistige Wesen rein und voll darstellenden individuellen Gestalt entwickelt ist. *) Den Leser, der diesen Dingen weiter nachgehen will, verweise ich auf die aus¬ führliche Darstellung, die ich im dritten Buche meiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts aus den deuischen Schulen und Universitäten" sowohl von der geistigen Bewegung des Neuhuma- nismus, als von der Neugestaltung des Schulwesens ans Grund dieser Ideen, endlich von den Gegenstrebungen in neuerer Zeit gegeben habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/428>, abgerufen am 27.06.2024.