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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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dnß er sogar seine Sprache vergißt und weder grammatisch noch orthographisch
zu schreiben weiß." Er denkt offenbar an die Erziehung durch allerlei fran¬
zösische Erziehungskünstler, wie sie in höfischen Kreisen und beim Adel seit
anderthalb Jahrhunderten in Übung gekommen war.

Man sieht, bei beiden Schriftstellern steht Bildung im Gegensatz zur Ab-
richtung. Abrichtung findet statt, wo die Erziehung lediglich die Brauchbar-
machnng des Zöglings zu einem zufälligen und äußerliche" Zweck, zu einer
Profession, oder die Formung nach irgend einem konventionellen Modell, z. B.
einer Konfession oder eines Standes, zur Absicht hat. Hierbei verkümmert
der Mensch als solcher; und das ist im Grunde in allen bisherigen Schulen
der Fall: in den Lateinschulen findet Dressur zur Latinitüt, in den Volksschulen
zur Konfessivnalität, in den vornehmen Häusern zur Konduite und Galanterie
statt. Es ist Rousseaus Klage: die "Gesellschaft" nimmt von klein auf das
Kind in Beschlag und läßt es nicht zu sich selber, zur natürlichen Entwicklung
seines Wesens kommen. Dein gegenüber verlangt er und mit ihm die deutsche
Reformpädagvgik. daß die Erziehung der freien Entwicklung aller menschlichen
Anlagen Raum lasse und Unterstützung biete; so wird eine wahrhaft mensch¬
liche Gestalt oder Bildung herauskommen. Bildung bezeichnet also das neue
Erziehungsideal: die natürliche, durch organische Entwicklung frei sich bildende,
alle Seiten des menschlichen Wesens in gesunder Fülle zeigende, vollendete
Menschengestalt, im Gegensatz zu der verkrüppelten Gestalt, die das Ergebnis
konventioneller Dressur ist. In diesem Sinne sagt Fr. Schlegel einmal: "Das
höchste Gut und das allem Nützliche ist die Bildung" (Athenäum, I, 9).

Pestalozzi trügt das Ideal freier, allgemein menschlicher Bildung in die
Volksschule, Herder stellt es den Gelehrtenschulen vor Augen. Er findet das
Urbild solcher Bildung in den Alten, vorzüglich in den Griechen. Und das
ist nun der Ton, der uns aus zahllosen Schriften jeder Gattung in dieser
Zeit entgegenklingt: sreie und allseitige Bildung des Menschen ist im alten
Griechenland heimisch, wie sonst nirgends; hier hat das menschliche Wesen seine
Idee, die von der schöpferischen Natur beabsichtigte Gestalt, wirklich erreicht.
Sowohl die empfindende und denkende, als die sittliche Seite des menschlichen
Wesens finden wir hier in der vollendetsten Entfaltung. Der innern Voll¬
endung folgt aber die Schönheit, wie der Liebreiz der Jugend; und der Schön¬
heit des Seelenlebens entspricht seine Erscheinung und Darstellung in einem
schönen, durch Zucht, Übung und Pflege vollendeten Leibe. Mit dem
Namen Kalokagcithia bezeichnen die Griechen felbst ihr Ideal menschlicher
Bildung: dös Wort schließt Tüchtigkeit und Schönheit in einen Begriff
zusammen.

Die ganze deutsche Litteratur um die Wende des Jahrhunderts ist von
diesen Anschauungen durchdrungen. Sie beherrschen die neuhumanistische Gyin-
nasinlpndagogik, sie bilde" die ideelle Grundlage der großen Reform des höhern


Bildung

dnß er sogar seine Sprache vergißt und weder grammatisch noch orthographisch
zu schreiben weiß." Er denkt offenbar an die Erziehung durch allerlei fran¬
zösische Erziehungskünstler, wie sie in höfischen Kreisen und beim Adel seit
anderthalb Jahrhunderten in Übung gekommen war.

Man sieht, bei beiden Schriftstellern steht Bildung im Gegensatz zur Ab-
richtung. Abrichtung findet statt, wo die Erziehung lediglich die Brauchbar-
machnng des Zöglings zu einem zufälligen und äußerliche» Zweck, zu einer
Profession, oder die Formung nach irgend einem konventionellen Modell, z. B.
einer Konfession oder eines Standes, zur Absicht hat. Hierbei verkümmert
der Mensch als solcher; und das ist im Grunde in allen bisherigen Schulen
der Fall: in den Lateinschulen findet Dressur zur Latinitüt, in den Volksschulen
zur Konfessivnalität, in den vornehmen Häusern zur Konduite und Galanterie
statt. Es ist Rousseaus Klage: die „Gesellschaft" nimmt von klein auf das
Kind in Beschlag und läßt es nicht zu sich selber, zur natürlichen Entwicklung
seines Wesens kommen. Dein gegenüber verlangt er und mit ihm die deutsche
Reformpädagvgik. daß die Erziehung der freien Entwicklung aller menschlichen
Anlagen Raum lasse und Unterstützung biete; so wird eine wahrhaft mensch¬
liche Gestalt oder Bildung herauskommen. Bildung bezeichnet also das neue
Erziehungsideal: die natürliche, durch organische Entwicklung frei sich bildende,
alle Seiten des menschlichen Wesens in gesunder Fülle zeigende, vollendete
Menschengestalt, im Gegensatz zu der verkrüppelten Gestalt, die das Ergebnis
konventioneller Dressur ist. In diesem Sinne sagt Fr. Schlegel einmal: „Das
höchste Gut und das allem Nützliche ist die Bildung" (Athenäum, I, 9).

Pestalozzi trügt das Ideal freier, allgemein menschlicher Bildung in die
Volksschule, Herder stellt es den Gelehrtenschulen vor Augen. Er findet das
Urbild solcher Bildung in den Alten, vorzüglich in den Griechen. Und das
ist nun der Ton, der uns aus zahllosen Schriften jeder Gattung in dieser
Zeit entgegenklingt: sreie und allseitige Bildung des Menschen ist im alten
Griechenland heimisch, wie sonst nirgends; hier hat das menschliche Wesen seine
Idee, die von der schöpferischen Natur beabsichtigte Gestalt, wirklich erreicht.
Sowohl die empfindende und denkende, als die sittliche Seite des menschlichen
Wesens finden wir hier in der vollendetsten Entfaltung. Der innern Voll¬
endung folgt aber die Schönheit, wie der Liebreiz der Jugend; und der Schön¬
heit des Seelenlebens entspricht seine Erscheinung und Darstellung in einem
schönen, durch Zucht, Übung und Pflege vollendeten Leibe. Mit dem
Namen Kalokagcithia bezeichnen die Griechen felbst ihr Ideal menschlicher
Bildung: dös Wort schließt Tüchtigkeit und Schönheit in einen Begriff
zusammen.

Die ganze deutsche Litteratur um die Wende des Jahrhunderts ist von
diesen Anschauungen durchdrungen. Sie beherrschen die neuhumanistische Gyin-
nasinlpndagogik, sie bilde» die ideelle Grundlage der großen Reform des höhern


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[0427] Bildung dnß er sogar seine Sprache vergißt und weder grammatisch noch orthographisch zu schreiben weiß." Er denkt offenbar an die Erziehung durch allerlei fran¬ zösische Erziehungskünstler, wie sie in höfischen Kreisen und beim Adel seit anderthalb Jahrhunderten in Übung gekommen war. Man sieht, bei beiden Schriftstellern steht Bildung im Gegensatz zur Ab- richtung. Abrichtung findet statt, wo die Erziehung lediglich die Brauchbar- machnng des Zöglings zu einem zufälligen und äußerliche» Zweck, zu einer Profession, oder die Formung nach irgend einem konventionellen Modell, z. B. einer Konfession oder eines Standes, zur Absicht hat. Hierbei verkümmert der Mensch als solcher; und das ist im Grunde in allen bisherigen Schulen der Fall: in den Lateinschulen findet Dressur zur Latinitüt, in den Volksschulen zur Konfessivnalität, in den vornehmen Häusern zur Konduite und Galanterie statt. Es ist Rousseaus Klage: die „Gesellschaft" nimmt von klein auf das Kind in Beschlag und läßt es nicht zu sich selber, zur natürlichen Entwicklung seines Wesens kommen. Dein gegenüber verlangt er und mit ihm die deutsche Reformpädagvgik. daß die Erziehung der freien Entwicklung aller menschlichen Anlagen Raum lasse und Unterstützung biete; so wird eine wahrhaft mensch¬ liche Gestalt oder Bildung herauskommen. Bildung bezeichnet also das neue Erziehungsideal: die natürliche, durch organische Entwicklung frei sich bildende, alle Seiten des menschlichen Wesens in gesunder Fülle zeigende, vollendete Menschengestalt, im Gegensatz zu der verkrüppelten Gestalt, die das Ergebnis konventioneller Dressur ist. In diesem Sinne sagt Fr. Schlegel einmal: „Das höchste Gut und das allem Nützliche ist die Bildung" (Athenäum, I, 9). Pestalozzi trügt das Ideal freier, allgemein menschlicher Bildung in die Volksschule, Herder stellt es den Gelehrtenschulen vor Augen. Er findet das Urbild solcher Bildung in den Alten, vorzüglich in den Griechen. Und das ist nun der Ton, der uns aus zahllosen Schriften jeder Gattung in dieser Zeit entgegenklingt: sreie und allseitige Bildung des Menschen ist im alten Griechenland heimisch, wie sonst nirgends; hier hat das menschliche Wesen seine Idee, die von der schöpferischen Natur beabsichtigte Gestalt, wirklich erreicht. Sowohl die empfindende und denkende, als die sittliche Seite des menschlichen Wesens finden wir hier in der vollendetsten Entfaltung. Der innern Voll¬ endung folgt aber die Schönheit, wie der Liebreiz der Jugend; und der Schön¬ heit des Seelenlebens entspricht seine Erscheinung und Darstellung in einem schönen, durch Zucht, Übung und Pflege vollendeten Leibe. Mit dem Namen Kalokagcithia bezeichnen die Griechen felbst ihr Ideal menschlicher Bildung: dös Wort schließt Tüchtigkeit und Schönheit in einen Begriff zusammen. Die ganze deutsche Litteratur um die Wende des Jahrhunderts ist von diesen Anschauungen durchdrungen. Sie beherrschen die neuhumanistische Gyin- nasinlpndagogik, sie bilde» die ideelle Grundlage der großen Reform des höhern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/427>, abgerufen am 30.06.2024.