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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Ldnmnd Dorer

Gemeindegerichte z" bewahren gewußt. Sollte dem Reichstag der Entwurf einer
Strafgerichtsordnung für das deutsche Heer vorgelegt werden, der die An¬
forderungen des modernen Strafprozesses mit den notwendigen Rücksichten auf
die Disziplin und die dadurch gewährleistete Tüchtigkeit des Heeres zu ver-
söhucuwciß, so darf das Werk nicht daran scheitern, daß um so hohen Preises
willen einige territoriale Eigenheiten bestehen bleiben.




Edmund Dorer

le litterarische Viel- und Überproduktion der Gegenwart, der sich
eine seltsame Verworrenheit und Unsicherheit des Empfindens
und Urteils zugesellt, ist so wenig von heute und gestern, als
es den Anschein hat, daß sie morgen oder übermorgen aufhören
werde. Von Tag zu Tag wird es daher schwieriger, selbst wert¬
vollen, bedeutenden Leistungen, die nicht gerade mit einem herrschenden Zug
und Drang des Publikums zusammenfallen, die gebührende Stelle in der
öffentliche" Aufmerksamkeit zu sichern, und immer wieder erneuert sich, bald
für Lebende, bald für Tote, die Klage, daß ihr Streben und Wirken zu geringe
Teilnahme gefunden habe, immer wieder gilt Fr. Hebbels bitteres Epigramm:


UnMckseliiies Volk, das deutsche, mit seinen Talenten,
Daß es an keinem besitzt, aber an jedem verliert!

Jahraus jahrein werden litterarische Hinterlassenschaften gesammelt, warm
empfohlen und beifällig begrüßt, von denen doch nur die wenigsten als Re¬
liquien die Wunder wirken können, die sie zur Zeit ihrer Entstehung nicht
wirken wollten. Pietätvolle Erinnerung, tiefe Überzeugung von dem bleibenden
Gehalt poetischer Schöpfungen, bloße Sammellust und unermüdliche Bnch-
macherei begegnen sich auf dem Gebiete nachgelassener, bei Lebzeiten ihrer Ver¬
fasser unveröffentlichter Werke in seltsamer Eintracht. Die Sammellust findet
gelegentlich Perlen, und die Pietät giebt Glassplitter für Perlen aus, aber in
dein einen wie in dem andern Falle kostet es Mühe, die Augen des Publikums
ans die betreffenden Gaben zu lenken. Schließlich entscheidet, wie immer, die
unmittelbare Stärke, Wärme und Tiefe des Lebens in einem poetischen Nachlaß;
bis diese erkannt und gewürdigt sind, können mancherlei Gründe hinter¬
lassenen Schriften, auch solchen, in denen es mit der Stärke, Wärme und Tiefe
des Lebens mißlich aussieht, günstige Aufnahme und eine mäßige Verbreitung
verschaffen. Diese Gründe sind wechselnder Art, es hat eine Zeit gegeben,


Ldnmnd Dorer

Gemeindegerichte z» bewahren gewußt. Sollte dem Reichstag der Entwurf einer
Strafgerichtsordnung für das deutsche Heer vorgelegt werden, der die An¬
forderungen des modernen Strafprozesses mit den notwendigen Rücksichten auf
die Disziplin und die dadurch gewährleistete Tüchtigkeit des Heeres zu ver-
söhucuwciß, so darf das Werk nicht daran scheitern, daß um so hohen Preises
willen einige territoriale Eigenheiten bestehen bleiben.




Edmund Dorer

le litterarische Viel- und Überproduktion der Gegenwart, der sich
eine seltsame Verworrenheit und Unsicherheit des Empfindens
und Urteils zugesellt, ist so wenig von heute und gestern, als
es den Anschein hat, daß sie morgen oder übermorgen aufhören
werde. Von Tag zu Tag wird es daher schwieriger, selbst wert¬
vollen, bedeutenden Leistungen, die nicht gerade mit einem herrschenden Zug
und Drang des Publikums zusammenfallen, die gebührende Stelle in der
öffentliche» Aufmerksamkeit zu sichern, und immer wieder erneuert sich, bald
für Lebende, bald für Tote, die Klage, daß ihr Streben und Wirken zu geringe
Teilnahme gefunden habe, immer wieder gilt Fr. Hebbels bitteres Epigramm:


UnMckseliiies Volk, das deutsche, mit seinen Talenten,
Daß es an keinem besitzt, aber an jedem verliert!

Jahraus jahrein werden litterarische Hinterlassenschaften gesammelt, warm
empfohlen und beifällig begrüßt, von denen doch nur die wenigsten als Re¬
liquien die Wunder wirken können, die sie zur Zeit ihrer Entstehung nicht
wirken wollten. Pietätvolle Erinnerung, tiefe Überzeugung von dem bleibenden
Gehalt poetischer Schöpfungen, bloße Sammellust und unermüdliche Bnch-
macherei begegnen sich auf dem Gebiete nachgelassener, bei Lebzeiten ihrer Ver¬
fasser unveröffentlichter Werke in seltsamer Eintracht. Die Sammellust findet
gelegentlich Perlen, und die Pietät giebt Glassplitter für Perlen aus, aber in
dein einen wie in dem andern Falle kostet es Mühe, die Augen des Publikums
ans die betreffenden Gaben zu lenken. Schließlich entscheidet, wie immer, die
unmittelbare Stärke, Wärme und Tiefe des Lebens in einem poetischen Nachlaß;
bis diese erkannt und gewürdigt sind, können mancherlei Gründe hinter¬
lassenen Schriften, auch solchen, in denen es mit der Stärke, Wärme und Tiefe
des Lebens mißlich aussieht, günstige Aufnahme und eine mäßige Verbreitung
verschaffen. Diese Gründe sind wechselnder Art, es hat eine Zeit gegeben,


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[0376] Ldnmnd Dorer Gemeindegerichte z» bewahren gewußt. Sollte dem Reichstag der Entwurf einer Strafgerichtsordnung für das deutsche Heer vorgelegt werden, der die An¬ forderungen des modernen Strafprozesses mit den notwendigen Rücksichten auf die Disziplin und die dadurch gewährleistete Tüchtigkeit des Heeres zu ver- söhucuwciß, so darf das Werk nicht daran scheitern, daß um so hohen Preises willen einige territoriale Eigenheiten bestehen bleiben. Edmund Dorer le litterarische Viel- und Überproduktion der Gegenwart, der sich eine seltsame Verworrenheit und Unsicherheit des Empfindens und Urteils zugesellt, ist so wenig von heute und gestern, als es den Anschein hat, daß sie morgen oder übermorgen aufhören werde. Von Tag zu Tag wird es daher schwieriger, selbst wert¬ vollen, bedeutenden Leistungen, die nicht gerade mit einem herrschenden Zug und Drang des Publikums zusammenfallen, die gebührende Stelle in der öffentliche» Aufmerksamkeit zu sichern, und immer wieder erneuert sich, bald für Lebende, bald für Tote, die Klage, daß ihr Streben und Wirken zu geringe Teilnahme gefunden habe, immer wieder gilt Fr. Hebbels bitteres Epigramm: UnMckseliiies Volk, das deutsche, mit seinen Talenten, Daß es an keinem besitzt, aber an jedem verliert! Jahraus jahrein werden litterarische Hinterlassenschaften gesammelt, warm empfohlen und beifällig begrüßt, von denen doch nur die wenigsten als Re¬ liquien die Wunder wirken können, die sie zur Zeit ihrer Entstehung nicht wirken wollten. Pietätvolle Erinnerung, tiefe Überzeugung von dem bleibenden Gehalt poetischer Schöpfungen, bloße Sammellust und unermüdliche Bnch- macherei begegnen sich auf dem Gebiete nachgelassener, bei Lebzeiten ihrer Ver¬ fasser unveröffentlichter Werke in seltsamer Eintracht. Die Sammellust findet gelegentlich Perlen, und die Pietät giebt Glassplitter für Perlen aus, aber in dein einen wie in dem andern Falle kostet es Mühe, die Augen des Publikums ans die betreffenden Gaben zu lenken. Schließlich entscheidet, wie immer, die unmittelbare Stärke, Wärme und Tiefe des Lebens in einem poetischen Nachlaß; bis diese erkannt und gewürdigt sind, können mancherlei Gründe hinter¬ lassenen Schriften, auch solchen, in denen es mit der Stärke, Wärme und Tiefe des Lebens mißlich aussieht, günstige Aufnahme und eine mäßige Verbreitung verschaffen. Diese Gründe sind wechselnder Art, es hat eine Zeit gegeben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/376>, abgerufen am 27.06.2024.