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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Griilidoiltschland

Haben so die innern Zustände Westfalens, je weiter wir vorgedrungen
sind, ein um so trüberes Bild gezeigt, so sollen doch daneben die Lichtseiten,
die die französische Verwaltung brachte, nicht vergessen werden. Selbst ein so
treuer hannoverscher Beamter wie der Appellntionspräsident von Strombeet
erkannte dies an. Wen" man glauben sollte schreibt er in seineu Lebens¬
erinnerungen --, daß Trauer und Niedergeschlagenheit der allgemeine Charakter
gewesen wäre, so würde man sich sehr irren. "Manchen drückte freilich die
Gegenwart nieder, aber im allgemeinen hoffte man und glaubte, mit dem Ver¬
schwinden mancher veraltetem Form würde ein neues Lebe" erwachen. Uns
war zu Sinne, wie ungefähr einem deutschen Auswaiidercr zu Sinne sein
mag, der den Boden der neue" Welt betritt. Mit Sehnsucht denkt er zurück
an das, was er verlor, an seine Lieben; aber neue Hoffnung -- nicht ohne
Bangigkeit für die Zukunft -- belebt ihn doch anch nud macht, daß er sich
nicht eigentlich unglücklich fühlt." Es waren freilich sieben schwere Jahre,
diese Jahre der Fremdherrschaft, aber es kam ein neuer Geist in die Köpfe,
der sein Entstehen nicht zum wenigsten der französischen Revolution und dem
in ihrem Sinne begründeten Königreich Westfalen verdankte. Auch gewann
dadurch das Nationalitätsprinzip in Deutschland mehr Boden, sodaß ein neuerer
Geschichtschreiber, wenn much etwas kühn, die Schöpfung des Königreichs
Westfalen ein vorbereitendes Experiment ans Deutschlands Einigung nennen
konnte.




Gründeutschland

le oft haben wir, als wir Kinder waren, dem Märchen "Schwan
kleb an!" mit Entzücken und ohne kritische Zweifel gelauscht!
Nachher kam wohl für jeden die Zeit, in der er sich des fröh¬
lichen Glaubens an gereimte und ungereimte Ammenmärchen
schämte. Und heute, mit ergrauten Haaren, verstehen wir end¬
lich den ganzen Tiefsinn der Erzählung: wie die Klebekraft des Schwans in
die Hände aller überströmt, die von dem Vogel fortgezogen werden, wie der
Schornsteinfeger der Bauerdirne und der Amtmann dem Schornsteinfeger folgt,
bis zuletzt auch die Königstochter hängen bleibt. Denn haben wir nicht hundert¬
mal und unter den verschiedensten Umständen erlebt, daß es hieß: "hie Schwan!"
und "Schwan kleb an!", wissen wir nicht, daß, wenn erst ein Thor angefaßt
hat, alle andern in endlosem Gewimmel hinterdreintanzen, und sehen wir nicht,
daß es meist nicht einmal eines Schwans bedarf? Ein Schuhu, ein kollernder


Griilidoiltschland

Haben so die innern Zustände Westfalens, je weiter wir vorgedrungen
sind, ein um so trüberes Bild gezeigt, so sollen doch daneben die Lichtseiten,
die die französische Verwaltung brachte, nicht vergessen werden. Selbst ein so
treuer hannoverscher Beamter wie der Appellntionspräsident von Strombeet
erkannte dies an. Wen» man glauben sollte schreibt er in seineu Lebens¬
erinnerungen —, daß Trauer und Niedergeschlagenheit der allgemeine Charakter
gewesen wäre, so würde man sich sehr irren. „Manchen drückte freilich die
Gegenwart nieder, aber im allgemeinen hoffte man und glaubte, mit dem Ver¬
schwinden mancher veraltetem Form würde ein neues Lebe» erwachen. Uns
war zu Sinne, wie ungefähr einem deutschen Auswaiidercr zu Sinne sein
mag, der den Boden der neue» Welt betritt. Mit Sehnsucht denkt er zurück
an das, was er verlor, an seine Lieben; aber neue Hoffnung — nicht ohne
Bangigkeit für die Zukunft — belebt ihn doch anch nud macht, daß er sich
nicht eigentlich unglücklich fühlt." Es waren freilich sieben schwere Jahre,
diese Jahre der Fremdherrschaft, aber es kam ein neuer Geist in die Köpfe,
der sein Entstehen nicht zum wenigsten der französischen Revolution und dem
in ihrem Sinne begründeten Königreich Westfalen verdankte. Auch gewann
dadurch das Nationalitätsprinzip in Deutschland mehr Boden, sodaß ein neuerer
Geschichtschreiber, wenn much etwas kühn, die Schöpfung des Königreichs
Westfalen ein vorbereitendes Experiment ans Deutschlands Einigung nennen
konnte.




Gründeutschland

le oft haben wir, als wir Kinder waren, dem Märchen „Schwan
kleb an!" mit Entzücken und ohne kritische Zweifel gelauscht!
Nachher kam wohl für jeden die Zeit, in der er sich des fröh¬
lichen Glaubens an gereimte und ungereimte Ammenmärchen
schämte. Und heute, mit ergrauten Haaren, verstehen wir end¬
lich den ganzen Tiefsinn der Erzählung: wie die Klebekraft des Schwans in
die Hände aller überströmt, die von dem Vogel fortgezogen werden, wie der
Schornsteinfeger der Bauerdirne und der Amtmann dem Schornsteinfeger folgt,
bis zuletzt auch die Königstochter hängen bleibt. Denn haben wir nicht hundert¬
mal und unter den verschiedensten Umständen erlebt, daß es hieß: „hie Schwan!"
und „Schwan kleb an!", wissen wir nicht, daß, wenn erst ein Thor angefaßt
hat, alle andern in endlosem Gewimmel hinterdreintanzen, und sehen wir nicht,
daß es meist nicht einmal eines Schwans bedarf? Ein Schuhu, ein kollernder


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[0036] Griilidoiltschland Haben so die innern Zustände Westfalens, je weiter wir vorgedrungen sind, ein um so trüberes Bild gezeigt, so sollen doch daneben die Lichtseiten, die die französische Verwaltung brachte, nicht vergessen werden. Selbst ein so treuer hannoverscher Beamter wie der Appellntionspräsident von Strombeet erkannte dies an. Wen» man glauben sollte schreibt er in seineu Lebens¬ erinnerungen —, daß Trauer und Niedergeschlagenheit der allgemeine Charakter gewesen wäre, so würde man sich sehr irren. „Manchen drückte freilich die Gegenwart nieder, aber im allgemeinen hoffte man und glaubte, mit dem Ver¬ schwinden mancher veraltetem Form würde ein neues Lebe» erwachen. Uns war zu Sinne, wie ungefähr einem deutschen Auswaiidercr zu Sinne sein mag, der den Boden der neue» Welt betritt. Mit Sehnsucht denkt er zurück an das, was er verlor, an seine Lieben; aber neue Hoffnung — nicht ohne Bangigkeit für die Zukunft — belebt ihn doch anch nud macht, daß er sich nicht eigentlich unglücklich fühlt." Es waren freilich sieben schwere Jahre, diese Jahre der Fremdherrschaft, aber es kam ein neuer Geist in die Köpfe, der sein Entstehen nicht zum wenigsten der französischen Revolution und dem in ihrem Sinne begründeten Königreich Westfalen verdankte. Auch gewann dadurch das Nationalitätsprinzip in Deutschland mehr Boden, sodaß ein neuerer Geschichtschreiber, wenn much etwas kühn, die Schöpfung des Königreichs Westfalen ein vorbereitendes Experiment ans Deutschlands Einigung nennen konnte. Gründeutschland le oft haben wir, als wir Kinder waren, dem Märchen „Schwan kleb an!" mit Entzücken und ohne kritische Zweifel gelauscht! Nachher kam wohl für jeden die Zeit, in der er sich des fröh¬ lichen Glaubens an gereimte und ungereimte Ammenmärchen schämte. Und heute, mit ergrauten Haaren, verstehen wir end¬ lich den ganzen Tiefsinn der Erzählung: wie die Klebekraft des Schwans in die Hände aller überströmt, die von dem Vogel fortgezogen werden, wie der Schornsteinfeger der Bauerdirne und der Amtmann dem Schornsteinfeger folgt, bis zuletzt auch die Königstochter hängen bleibt. Denn haben wir nicht hundert¬ mal und unter den verschiedensten Umständen erlebt, daß es hieß: „hie Schwan!" und „Schwan kleb an!", wissen wir nicht, daß, wenn erst ein Thor angefaßt hat, alle andern in endlosem Gewimmel hinterdreintanzen, und sehen wir nicht, daß es meist nicht einmal eines Schwans bedarf? Ein Schuhu, ein kollernder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/36>, abgerufen am 27.06.2024.