Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Zur Diätenfrage. Wohl in jeder Legislaturperiode, solange der Reichstag Das letztemal erntete einer der jünger" Abgeordneten des Reichstags, als er Auch in der gegenwärtigen Legislaturperiode wird wohl die Diätenfrage wieder Die Diätenlosigkeit des Reichstags fristet ihr Dasein mit Hilfe eines Stand¬ Der ganze Standpunkt ist also auf die Dauer unhaltbar, wenn praktische Jeder Abgeordnete vertritt die wahlberechtigten Einwohner seines Wahlbezirks. Fragen wir nun: "Ist es logisch richtig und gerecht, daß jeder stimmberech- Greuzboten IV 1893 36
Maßgebliches und Unmaßgebliches Zur Diätenfrage. Wohl in jeder Legislaturperiode, solange der Reichstag Das letztemal erntete einer der jünger» Abgeordneten des Reichstags, als er Auch in der gegenwärtigen Legislaturperiode wird wohl die Diätenfrage wieder Die Diätenlosigkeit des Reichstags fristet ihr Dasein mit Hilfe eines Stand¬ Der ganze Standpunkt ist also auf die Dauer unhaltbar, wenn praktische Jeder Abgeordnete vertritt die wahlberechtigten Einwohner seines Wahlbezirks. Fragen wir nun: „Ist es logisch richtig und gerecht, daß jeder stimmberech- Greuzboten IV 1893 36
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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zur Diätenfrage. Wohl in jeder Legislaturperiode, solange der Reichstag
besteht, ist die Diätenfrage einmal aufgetaucht, um, mit oder ohne Besprechung,
brennendem Fragen Platz zu machen.
Das letztemal erntete einer der jünger» Abgeordneten des Reichstags, als er
inmitten einer die verschiedensten Dinge durcheinanderwürfelnden Rede plötzlich die
gewichtigen Worte aussprach: „Ich bitte Sie, meine Herren, bewilligen Sie die
Diäten!" homerisches Gelächter.
Auch in der gegenwärtigen Legislaturperiode wird wohl die Diätenfrage wieder
angeregt werden, und namentlich, wenn wieder einmal die Beschlußunfähigkeit des
Reichstags zur Tagesordnung gehören und die Mehrzahl der Abgeordneten beharr¬
lich dnrch Abwesenheit glänzen sollte, dem Reiche zum Schaden und dem Volke
zum Ärgernis.
Die Diätenlosigkeit des Reichstags fristet ihr Dasein mit Hilfe eines Stand¬
punkts, ans dem bisher die Mehrheit der Abgeordneten zu stehen schien, der aber
von Jahr zu Jahr wackliger geworden ist. Es sind im wesentlichen drei Gründe,
die man zu Gunsten der Diätenlosigkeit geltend gemacht hat. Erstens hoffte man
schnellere Erledigung aller Angelegenheiten, denn es lag nahe, daß jeder Abgeord¬
nete darauf bedacht sein würde, dem teuern Pflaster der Residenz sobald wie mög¬
lich den Rücken zu kehren, wenn er selber dort die Kosten seines Aufenthalts zu
bestreiten hätte. Diese Rechnung war, wie die Erfahrung gezeigt hat, ganz falsch.
Zweitens hoffte man im allgemeinen eine würdigere Vertretung zu erhalten, d. h.
Leute, die im Bewußtsein der ihnen wiederfahrenden Ehre und der Bedeutung
ihres Amtes gewillt sein würden, dem Vaterlande jedes Opfer zu bringen. Auch
diese Rechnung war verfehlt. Denn es ist allbekannt, daß eine große Zahl der
Abgeordneten keineswegs nur der Ehre wegen ihres Amtes waltet, sondern aus
Partei- und Privatmitteln reichlich entschädigt wird, ein Umstand, den das Gesetz
wohl verbietet, aber nicht verhindern kann. Hieraus ergiebt sich von selbst die
Hinfälligkeit des dritten Grundes, daß man nämlich hoffte, in der Diätenlosigkeit
ein Gegengewicht gegen die Einrichtung des allgemeinen Wahlrechts zu haben. Die
Zunahme der Vertreter der Umsturzparteien ist der schlagendste Beweis dafür, daß
auch dieser Grund nicht stichhaltig ist.
Der ganze Standpunkt ist also auf die Dauer unhaltbar, wenn praktische
Gründe gege« die Diäteulosigkeit sprechen. Und solche sind zur Genüge vor¬
handen. Es kann sich also nur um die Deckuugsfrage handeln. Diese kann aber
sehr wohl gelöst werden, auch ohne den Staatshaushalt noch mehr zu belasten.
Jeder Abgeordnete vertritt die wahlberechtigten Einwohner seines Wahlbezirks.
Ihre sämtlichen Stimmen sind in ihm zu einer Einheit zusammengefaßt. Wollte
jeder stimmberechtigte Bürger seine Stimme selber zur Geltung bringen, so müßte
er, mindestens bei den Gesetzvorlagen, die seine besondern Interessen berühren, per¬
sönlich zu dem Versammlungsorte eilen, wie sich der Wilde vor das Zelt des
Häuptlings begiebt. Das ist in einem großen Staate mit Millionen stimmberech¬
tigter Bürger nicht möglich, und so hat man die Volksvertretung geschaffen. Man
hat es dem stimmberechtigten Bürger bequem gemacht, er braucht nur zur Wahl¬
urne zu gehen und seinen Wahlzettel abzugeben. Alles andre besorgt dann der
aus der Wahl hervorgegangne Abgeordnete.
Fragen wir nun: „Ist es logisch richtig und gerecht, daß jeder stimmberech-
Greuzboten IV 1893 36
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