Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Die ätherische Volksmoral im Drama 5 ir haben gesehen: es findet sich im athenischen Drama kein Grund¬ Aristophanes fälscht das sittliche Urteil in keinem Punkte. Er verteidigt Die ätherische Volksmoral im Drama 5 ir haben gesehen: es findet sich im athenischen Drama kein Grund¬ Aristophanes fälscht das sittliche Urteil in keinem Punkte. Er verteidigt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0510" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215600"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341857_215089/figures/grenzboten_341857_215089_215600_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Die ätherische Volksmoral im Drama<lb/> 5</head><lb/> <p xml:id="ID_1779"> ir haben gesehen: es findet sich im athenischen Drama kein Grund¬<lb/> satz, der unsrer heutigen Volksmoral widerspräche. Aber ist nicht<lb/> der ganze Aristophanes die Unsittlichkeit in Person? In der<lb/> That, wenn einer, der in den Grundsätzen unsrer heutigen Polizci-<lb/> moral aufgewachsen ist, in der Litteraturgeschichte liest, Aristo¬<lb/> phanes sei der Vertreter der strengen alten Sittenzucht gewesen, und dann den<lb/> Dichter selbst aufschlägt, so wird er die Litteraturgeschichtschreiber für verrückt<lb/> halten. Denn die heutige Polizeisittlichkeit leitet dazu an, das Unanständige<lb/> für das Unsittliche zu halten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1780" next="#ID_1781"> Aristophanes fälscht das sittliche Urteil in keinem Punkte. Er verteidigt<lb/> keine Art von Verletzungen der Heiligkeit der Ehe und hat so wenig wie die<lb/> Tragiker ein Ehebruchdrama geschrieben. Das Obsevne hat er reichlich ver¬<lb/> wendet, obwohl nicht so reichlich wie seine Vorgänger, denn er rühmt sich in<lb/> mehreren Parabascn, daß er die plumpen Späße der „guten alten Zeit" von<lb/> der Bühne verbannt und der Komödie einen tiefern Inhalt gegeben habe.<lb/> (Durch und durch ein politischer Dichter, bekämpfte er die Demagogie, die Kor¬<lb/> ruption, die Kriegspartei, vor allem deren Haupt, den mächtigen Kleon, und<lb/> die Sophistik.) Aber es siel eben keinem Menschen in Athen ein, das Obscöne<lb/> für unerlaubt zu halten. Die Entscheidung über diesen streitigen Puukt hängt<lb/> von der Beantwortung der Frage ab, ob es erlaubt sei, einen Genuß, den die<lb/> Natur gewährt, auch in der Erinnerung durch Wort und Bild wachzurufen<lb/> und sich seiner in der Elegie oder im Scherze der Komödie zu erfreuen. Die<lb/> Athener konnten diese Frage unmöglich mit nein beantworten, weil sie die<lb/> Natur weder für böse hielten, noch für etwas Unwürdiges, dessen man sich zu<lb/> schämen habe, sondern für das unentbehrliche Organ und die edle Hülle des<lb/> Geistes. Sehen wir uns die allerunanstündigste der Aristophanischen Komödien,<lb/> Lysistrate, an, so finden wir, daß sie sogar der griechischen Volkssittlichkeit ein<lb/> glänzendes Zeugnis ausstellt. Die Frauen aller griechischen Staaten verschworen<lb/> sich, ihre Männer dadurch zur Beendigung des Krieges zu zwingen, daß sie<lb/> sich ihnen bis zum Abschlüsse des Friedens versagen, und sie erreichen binnen<lb/> kürzester Frist ihr Ziel. Wäre das Hcllenenvolk so von Lastern zerfressen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0510]
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Die ätherische Volksmoral im Drama
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ir haben gesehen: es findet sich im athenischen Drama kein Grund¬
satz, der unsrer heutigen Volksmoral widerspräche. Aber ist nicht
der ganze Aristophanes die Unsittlichkeit in Person? In der
That, wenn einer, der in den Grundsätzen unsrer heutigen Polizci-
moral aufgewachsen ist, in der Litteraturgeschichte liest, Aristo¬
phanes sei der Vertreter der strengen alten Sittenzucht gewesen, und dann den
Dichter selbst aufschlägt, so wird er die Litteraturgeschichtschreiber für verrückt
halten. Denn die heutige Polizeisittlichkeit leitet dazu an, das Unanständige
für das Unsittliche zu halten.
Aristophanes fälscht das sittliche Urteil in keinem Punkte. Er verteidigt
keine Art von Verletzungen der Heiligkeit der Ehe und hat so wenig wie die
Tragiker ein Ehebruchdrama geschrieben. Das Obsevne hat er reichlich ver¬
wendet, obwohl nicht so reichlich wie seine Vorgänger, denn er rühmt sich in
mehreren Parabascn, daß er die plumpen Späße der „guten alten Zeit" von
der Bühne verbannt und der Komödie einen tiefern Inhalt gegeben habe.
(Durch und durch ein politischer Dichter, bekämpfte er die Demagogie, die Kor¬
ruption, die Kriegspartei, vor allem deren Haupt, den mächtigen Kleon, und
die Sophistik.) Aber es siel eben keinem Menschen in Athen ein, das Obscöne
für unerlaubt zu halten. Die Entscheidung über diesen streitigen Puukt hängt
von der Beantwortung der Frage ab, ob es erlaubt sei, einen Genuß, den die
Natur gewährt, auch in der Erinnerung durch Wort und Bild wachzurufen
und sich seiner in der Elegie oder im Scherze der Komödie zu erfreuen. Die
Athener konnten diese Frage unmöglich mit nein beantworten, weil sie die
Natur weder für böse hielten, noch für etwas Unwürdiges, dessen man sich zu
schämen habe, sondern für das unentbehrliche Organ und die edle Hülle des
Geistes. Sehen wir uns die allerunanstündigste der Aristophanischen Komödien,
Lysistrate, an, so finden wir, daß sie sogar der griechischen Volkssittlichkeit ein
glänzendes Zeugnis ausstellt. Die Frauen aller griechischen Staaten verschworen
sich, ihre Männer dadurch zur Beendigung des Krieges zu zwingen, daß sie
sich ihnen bis zum Abschlüsse des Friedens versagen, und sie erreichen binnen
kürzester Frist ihr Ziel. Wäre das Hcllenenvolk so von Lastern zerfressen
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