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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Erinnerung an jene Schreckcnsnacht war längst getilgt, da kommt
der Gallige aus Heft 23 der Grenzboten, und auf einmal stehen mir alle
Schrecken von Ur. 33 des Brockenhotels wieder lebendig vor der Seele. Ich
kann sie nicht anders bannen, als indem ich sie mit dem geneigten Leser teile.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Börsenreform.

Der Assessor A. Eschenbach, der, wie er sagt, das
Börsenwesen nicht allein theoretisch, sondern auch praktisch gründlich studirt hat,
ist von zwei Körperschaften, der ökonomischen Gesellschaft des Königreichs Sachsen
und dem deutschen Landwirtschaftsrat, veranlaßt worden, seine Erfahrungen, An¬
sichten und Reformvorschläge zu entwickeln, und hat dann den in Dresden gehaltenen
Vortrag nebst dem für den Landwirtschaftsrat abgefaßten Gutachten unter dem
Titel Zur Börsenrefvrm voriges Jahr bei Puttkammer und Mühlbrecht in
Berlin herausgegeben. Die kleine Schrift ist das klarste und verständigste, was
wir bis jetzt über den Gegenstand gelesen haben. Der Verfasser weist einerseits
die Unentbehrlichkeit der Zeit- und Termingeschäfte nach und stellt andrerseits das
Unheil, das ihr Mißbrauch anrichtet, in seinem vollen Umfange dar. Wie un¬
möglich es ist, jene viel angefochtenen Geschäfte zu verbieten, zeigt er unter andern
an folgendem Beispiel. "Der Kaufmann A hat in Rußland große Roggeneinkäufe
gemacht, die er nach Ausdrusch in Deutschland erwartete; er hat dasselbe Quantum
an große Mühlen auf Oktober- und Novemberlieferung verkauft. Es tritt Frost¬
wetter ein, die baltischen Häfen frieren zu, er kann den Roggen nicht liefern;
anderweit ist der Roggen gar nicht oder nur mit ganz enormen Kosten zu beschaffen.
Was bleibt ihm übrig? Er zahlt den Unterschied zwischen dem Verkaufspreise
und dem Preise am Tage der Lieferung und überläßt es der Mühle, ob sie um
diesem Tage sich selbst aus seine Kosten anderweit Roggen kaufen oder mit der
gedachten Differenz zufrieden sein null." Andrerseits hebt er hervor, daß die
Äörse die zweite ihrer beiden Aufgaben, die richtige Preisbildung, nnr noch sehr
unvollkommen erfüllt, weil es nur bei fünf Prozenten aller Börsengeschäfte auf
wirkliche Lieferung der Ware abgesehen ist, der Preis daher weniger von dem
Verhältnis zwischen reellem Angebot und reeller Nachfrage, als von dem für die
Spekulation vorhandnen Kapital und den zu Spckulationszweckeu verbreiteten Nach¬
richten abhängt. Das wirksamste Heilmittel sieht der Verfasser in dem vollständigen
Ausschluß des spekulirenden Publikums von der Börse. Die Börsenhändler sollen
korporativ zusammengefaßt und von dem PrivatpnblitUm, das etwa Lust zu spielen
hat, durch unzweideutige gesetzliche Bestimmungen deutlich geschieden und zugleich
alle Kreditgeschäfte zwischen Börsenhändlern und Privaten für nntlagbar erklärt
werden. Das heutige Handelsgesetz hält Eschenbach für unbrauchbar und veraltet,
und die Willkür, zu der die Richter unter diesen Umständen genötigt sind, wo es
sich um die Klagbarkeit von Börsengeschäften handelt, für gefährlich. Mit der
bequemen Ausrede, eS geschehe deu Dummen recht, die an der Börse ihr Geld


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Erinnerung an jene Schreckcnsnacht war längst getilgt, da kommt
der Gallige aus Heft 23 der Grenzboten, und auf einmal stehen mir alle
Schrecken von Ur. 33 des Brockenhotels wieder lebendig vor der Seele. Ich
kann sie nicht anders bannen, als indem ich sie mit dem geneigten Leser teile.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Börsenreform.

Der Assessor A. Eschenbach, der, wie er sagt, das
Börsenwesen nicht allein theoretisch, sondern auch praktisch gründlich studirt hat,
ist von zwei Körperschaften, der ökonomischen Gesellschaft des Königreichs Sachsen
und dem deutschen Landwirtschaftsrat, veranlaßt worden, seine Erfahrungen, An¬
sichten und Reformvorschläge zu entwickeln, und hat dann den in Dresden gehaltenen
Vortrag nebst dem für den Landwirtschaftsrat abgefaßten Gutachten unter dem
Titel Zur Börsenrefvrm voriges Jahr bei Puttkammer und Mühlbrecht in
Berlin herausgegeben. Die kleine Schrift ist das klarste und verständigste, was
wir bis jetzt über den Gegenstand gelesen haben. Der Verfasser weist einerseits
die Unentbehrlichkeit der Zeit- und Termingeschäfte nach und stellt andrerseits das
Unheil, das ihr Mißbrauch anrichtet, in seinem vollen Umfange dar. Wie un¬
möglich es ist, jene viel angefochtenen Geschäfte zu verbieten, zeigt er unter andern
an folgendem Beispiel. „Der Kaufmann A hat in Rußland große Roggeneinkäufe
gemacht, die er nach Ausdrusch in Deutschland erwartete; er hat dasselbe Quantum
an große Mühlen auf Oktober- und Novemberlieferung verkauft. Es tritt Frost¬
wetter ein, die baltischen Häfen frieren zu, er kann den Roggen nicht liefern;
anderweit ist der Roggen gar nicht oder nur mit ganz enormen Kosten zu beschaffen.
Was bleibt ihm übrig? Er zahlt den Unterschied zwischen dem Verkaufspreise
und dem Preise am Tage der Lieferung und überläßt es der Mühle, ob sie um
diesem Tage sich selbst aus seine Kosten anderweit Roggen kaufen oder mit der
gedachten Differenz zufrieden sein null." Andrerseits hebt er hervor, daß die
Äörse die zweite ihrer beiden Aufgaben, die richtige Preisbildung, nnr noch sehr
unvollkommen erfüllt, weil es nur bei fünf Prozenten aller Börsengeschäfte auf
wirkliche Lieferung der Ware abgesehen ist, der Preis daher weniger von dem
Verhältnis zwischen reellem Angebot und reeller Nachfrage, als von dem für die
Spekulation vorhandnen Kapital und den zu Spckulationszweckeu verbreiteten Nach¬
richten abhängt. Das wirksamste Heilmittel sieht der Verfasser in dem vollständigen
Ausschluß des spekulirenden Publikums von der Börse. Die Börsenhändler sollen
korporativ zusammengefaßt und von dem PrivatpnblitUm, das etwa Lust zu spielen
hat, durch unzweideutige gesetzliche Bestimmungen deutlich geschieden und zugleich
alle Kreditgeschäfte zwischen Börsenhändlern und Privaten für nntlagbar erklärt
werden. Das heutige Handelsgesetz hält Eschenbach für unbrauchbar und veraltet,
und die Willkür, zu der die Richter unter diesen Umständen genötigt sind, wo es
sich um die Klagbarkeit von Börsengeschäften handelt, für gefährlich. Mit der
bequemen Ausrede, eS geschehe deu Dummen recht, die an der Börse ihr Geld


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[0382] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Erinnerung an jene Schreckcnsnacht war längst getilgt, da kommt der Gallige aus Heft 23 der Grenzboten, und auf einmal stehen mir alle Schrecken von Ur. 33 des Brockenhotels wieder lebendig vor der Seele. Ich kann sie nicht anders bannen, als indem ich sie mit dem geneigten Leser teile. Maßgebliches und Unmaßgebliches Börsenreform. Der Assessor A. Eschenbach, der, wie er sagt, das Börsenwesen nicht allein theoretisch, sondern auch praktisch gründlich studirt hat, ist von zwei Körperschaften, der ökonomischen Gesellschaft des Königreichs Sachsen und dem deutschen Landwirtschaftsrat, veranlaßt worden, seine Erfahrungen, An¬ sichten und Reformvorschläge zu entwickeln, und hat dann den in Dresden gehaltenen Vortrag nebst dem für den Landwirtschaftsrat abgefaßten Gutachten unter dem Titel Zur Börsenrefvrm voriges Jahr bei Puttkammer und Mühlbrecht in Berlin herausgegeben. Die kleine Schrift ist das klarste und verständigste, was wir bis jetzt über den Gegenstand gelesen haben. Der Verfasser weist einerseits die Unentbehrlichkeit der Zeit- und Termingeschäfte nach und stellt andrerseits das Unheil, das ihr Mißbrauch anrichtet, in seinem vollen Umfange dar. Wie un¬ möglich es ist, jene viel angefochtenen Geschäfte zu verbieten, zeigt er unter andern an folgendem Beispiel. „Der Kaufmann A hat in Rußland große Roggeneinkäufe gemacht, die er nach Ausdrusch in Deutschland erwartete; er hat dasselbe Quantum an große Mühlen auf Oktober- und Novemberlieferung verkauft. Es tritt Frost¬ wetter ein, die baltischen Häfen frieren zu, er kann den Roggen nicht liefern; anderweit ist der Roggen gar nicht oder nur mit ganz enormen Kosten zu beschaffen. Was bleibt ihm übrig? Er zahlt den Unterschied zwischen dem Verkaufspreise und dem Preise am Tage der Lieferung und überläßt es der Mühle, ob sie um diesem Tage sich selbst aus seine Kosten anderweit Roggen kaufen oder mit der gedachten Differenz zufrieden sein null." Andrerseits hebt er hervor, daß die Äörse die zweite ihrer beiden Aufgaben, die richtige Preisbildung, nnr noch sehr unvollkommen erfüllt, weil es nur bei fünf Prozenten aller Börsengeschäfte auf wirkliche Lieferung der Ware abgesehen ist, der Preis daher weniger von dem Verhältnis zwischen reellem Angebot und reeller Nachfrage, als von dem für die Spekulation vorhandnen Kapital und den zu Spckulationszweckeu verbreiteten Nach¬ richten abhängt. Das wirksamste Heilmittel sieht der Verfasser in dem vollständigen Ausschluß des spekulirenden Publikums von der Börse. Die Börsenhändler sollen korporativ zusammengefaßt und von dem PrivatpnblitUm, das etwa Lust zu spielen hat, durch unzweideutige gesetzliche Bestimmungen deutlich geschieden und zugleich alle Kreditgeschäfte zwischen Börsenhändlern und Privaten für nntlagbar erklärt werden. Das heutige Handelsgesetz hält Eschenbach für unbrauchbar und veraltet, und die Willkür, zu der die Richter unter diesen Umständen genötigt sind, wo es sich um die Klagbarkeit von Börsengeschäften handelt, für gefährlich. Mit der bequemen Ausrede, eS geschehe deu Dummen recht, die an der Börse ihr Geld

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/382>, abgerufen am 23.11.2024.