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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Bilder aus dem Westen
von L. Below
6. Ein Sonntag in Aansas (Lily

ir glauben all an einen Gott -- so tönte der Gcmeindegesang
mit Orgelbegleitung ans der Kirche im Grünen hinter unserm
neu eingerichteten Hause herüber, und zu unsrer Verwundrung
in deutscher Sprache! Es mußte eine schöne, große Orgel sei".
Wie das Vorspiel vorüber war und der Choral begann, da
tauchten alte, halbvergesseue Kindheitserimierungeu in mir auf, und es fiel mir
ein, daß wir in dem Getreibe hier Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten ganz
vergessen hatten, denn wer dachte hier an Festtagskucheubackcn, und Freund
Karl, der neben mir in blendend weißer Sonntags Weste in seine Zeitungen
vertieft auf der Veranda saß, mußte mir helfen, daß wir uns besannen, welcher
Sonn- oder Festtag im Jahr heute eigentlich war.

Es wurde uns schwer. So viel war gewiß, dieser schöne Morgen mit
dem herrlichen Duft der blühenden Pfirsichbäume, dem Zwitschern der Vögel
und dem Rauschen des jungen Laubes war ein Jubeltag der Frühlingsaus¬
erstehung, wie er mit jedem Maisonntag als Nachfeier des Oster- und Früh¬
lingsfestes in allen fühlenden Herzen Nachklang findet, auch wenn sie nicht
die Perikopen auswendig wissen. Inwendig wußten wir sie. Unser Sonn¬
tagsevangelium hier, hieß heute wie das aller jubelnden Kreatur um uns
her: "Hiram zum Licht!"

Auch die Nachbarn saßen wie wir auf der Veranda vor ihrem Hause,
das durch einen Laubgang von unserm Grundstück geschieden war. und die
in leichtem Morgenkleid im Schaukelstuhl sich wiegende Mutter, die dann und
wann dem Papagei ein Kosewort zurief, schien einen harten Stand zu haben
gegenüber ihrem Manne, der den beiden entants tsrriblvs, zwei Jungen von
sieben und zehn Jahren, den Kopf zurecht setzte.

Er war Bahnmeister auf einer nahen Eisenbahnstation und kam nur alle
Sonntage nach Hause, um seine Familie zu sehen. Wahrend er in Hemd¬
ärmeln auf einem Streckstuhle liegend die Schärfe seines Federmessers an der
Säule des Vordaches probirte und dem ältern der beiden lebhaften Jungen
gute Lehren erteilte, stritten sich diese um einen halben Dollarschein, den sie




Bilder aus dem Westen
von L. Below
6. Ein Sonntag in Aansas (Lily

ir glauben all an einen Gott — so tönte der Gcmeindegesang
mit Orgelbegleitung ans der Kirche im Grünen hinter unserm
neu eingerichteten Hause herüber, und zu unsrer Verwundrung
in deutscher Sprache! Es mußte eine schöne, große Orgel sei».
Wie das Vorspiel vorüber war und der Choral begann, da
tauchten alte, halbvergesseue Kindheitserimierungeu in mir auf, und es fiel mir
ein, daß wir in dem Getreibe hier Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten ganz
vergessen hatten, denn wer dachte hier an Festtagskucheubackcn, und Freund
Karl, der neben mir in blendend weißer Sonntags Weste in seine Zeitungen
vertieft auf der Veranda saß, mußte mir helfen, daß wir uns besannen, welcher
Sonn- oder Festtag im Jahr heute eigentlich war.

Es wurde uns schwer. So viel war gewiß, dieser schöne Morgen mit
dem herrlichen Duft der blühenden Pfirsichbäume, dem Zwitschern der Vögel
und dem Rauschen des jungen Laubes war ein Jubeltag der Frühlingsaus¬
erstehung, wie er mit jedem Maisonntag als Nachfeier des Oster- und Früh¬
lingsfestes in allen fühlenden Herzen Nachklang findet, auch wenn sie nicht
die Perikopen auswendig wissen. Inwendig wußten wir sie. Unser Sonn¬
tagsevangelium hier, hieß heute wie das aller jubelnden Kreatur um uns
her: „Hiram zum Licht!"

Auch die Nachbarn saßen wie wir auf der Veranda vor ihrem Hause,
das durch einen Laubgang von unserm Grundstück geschieden war. und die
in leichtem Morgenkleid im Schaukelstuhl sich wiegende Mutter, die dann und
wann dem Papagei ein Kosewort zurief, schien einen harten Stand zu haben
gegenüber ihrem Manne, der den beiden entants tsrriblvs, zwei Jungen von
sieben und zehn Jahren, den Kopf zurecht setzte.

Er war Bahnmeister auf einer nahen Eisenbahnstation und kam nur alle
Sonntage nach Hause, um seine Familie zu sehen. Wahrend er in Hemd¬
ärmeln auf einem Streckstuhle liegend die Schärfe seines Federmessers an der
Säule des Vordaches probirte und dem ältern der beiden lebhaften Jungen
gute Lehren erteilte, stritten sich diese um einen halben Dollarschein, den sie


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[0232] [Abbildung] Bilder aus dem Westen von L. Below 6. Ein Sonntag in Aansas (Lily ir glauben all an einen Gott — so tönte der Gcmeindegesang mit Orgelbegleitung ans der Kirche im Grünen hinter unserm neu eingerichteten Hause herüber, und zu unsrer Verwundrung in deutscher Sprache! Es mußte eine schöne, große Orgel sei». Wie das Vorspiel vorüber war und der Choral begann, da tauchten alte, halbvergesseue Kindheitserimierungeu in mir auf, und es fiel mir ein, daß wir in dem Getreibe hier Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten ganz vergessen hatten, denn wer dachte hier an Festtagskucheubackcn, und Freund Karl, der neben mir in blendend weißer Sonntags Weste in seine Zeitungen vertieft auf der Veranda saß, mußte mir helfen, daß wir uns besannen, welcher Sonn- oder Festtag im Jahr heute eigentlich war. Es wurde uns schwer. So viel war gewiß, dieser schöne Morgen mit dem herrlichen Duft der blühenden Pfirsichbäume, dem Zwitschern der Vögel und dem Rauschen des jungen Laubes war ein Jubeltag der Frühlingsaus¬ erstehung, wie er mit jedem Maisonntag als Nachfeier des Oster- und Früh¬ lingsfestes in allen fühlenden Herzen Nachklang findet, auch wenn sie nicht die Perikopen auswendig wissen. Inwendig wußten wir sie. Unser Sonn¬ tagsevangelium hier, hieß heute wie das aller jubelnden Kreatur um uns her: „Hiram zum Licht!" Auch die Nachbarn saßen wie wir auf der Veranda vor ihrem Hause, das durch einen Laubgang von unserm Grundstück geschieden war. und die in leichtem Morgenkleid im Schaukelstuhl sich wiegende Mutter, die dann und wann dem Papagei ein Kosewort zurief, schien einen harten Stand zu haben gegenüber ihrem Manne, der den beiden entants tsrriblvs, zwei Jungen von sieben und zehn Jahren, den Kopf zurecht setzte. Er war Bahnmeister auf einer nahen Eisenbahnstation und kam nur alle Sonntage nach Hause, um seine Familie zu sehen. Wahrend er in Hemd¬ ärmeln auf einem Streckstuhle liegend die Schärfe seines Federmessers an der Säule des Vordaches probirte und dem ältern der beiden lebhaften Jungen gute Lehren erteilte, stritten sich diese um einen halben Dollarschein, den sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/232>, abgerufen am 23.11.2024.