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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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vom Mittelpunkte des Unterrichts

legt; Fritz Reuters Plattdeutsch ist seine echte und einzige Sprache, in der er
nicht bloß schrieb, sondern auch dachte; sein Hochdeutsch ist im Schreiben aus
dem Dialekt übersetzt. Darum ist sein Dialekt das starke Band, das ihn in
unlösbarer Verbindung erhält -- mit dem unsterblichen Volk, hätt' ich beinah
mit Immermann gesagt. Die Mundart war Reuters starke Schutzwehr gegen
das Papierdeutsch, von dem er sich frei gehalten hat, wie kein andrer neu¬
hochdeutscher Dichter; die Stellen sind zu zählen, wo es in seine Sprache ein¬
gedrungen ist. Aber er schreibt nicht nur so, wie das Volk spricht, er hat
des Volkes plastische Darstellung meisterhaft fortgebildet. Man lese nach, mit
welch schöpferischer Kühnheit er am Schluß der "Festungstid" das unschein¬
bare Sprichwort: "Din Kahn geiht lau deip" zu einem poetischen Gemälde
ausgestaltet, das den Vergleich mit den besten im Homer nicht zu scheuen
braucht. Kommt noch hinzu, daß der niederdeutsche Sprachstamm manche
Eigentümlichkeiten älterer Stufen des Deutschen gewahrt hat, die dem Hoch¬
deutschen abhanden gekommen sind, so dürfte sich Wohl schwerlich ein Dichter
finden, der mit besseren Erfolge den ritterlichen Sängern der Stauferzeit die
Hand reichen könnte, um unser verkommnes Sprachgefühl aus dem Sumpf
zu ziehen.

Er ist ja auch lange tot, der "Königsmörder," dem die Haft auf preu¬
ßischen Festungen Lebenskraft und Lebensglück untergraben hatte. Man braucht
also nicht zu fürchten, daß er sich der Ehre noch freuen könnte, ein Lehrer
des deutschen Volkes zu werden. Oder fürchtet man, die edle Menschlichkeit
des niedersächsischen Bauern möchte anstecken, der von den Disteln, mit denen
altprenßische Beamte ihn gequält hatten, Feigen pflückte zur Erquickung für
sein ganzes Volk? Mich dünkt, es ist doch besser, daß ein edler Dichter unsre
Jugend über die traurigste Zeit belehrt, die unser Vaterland durchgemacht hat,
als daß man sie mit einer Binde um die Augen ins Leben laufen läßt auf
die Gefahr hin, daß sie den finstern Mächten zutreibe, die das Fundament
des Reiches unterwühlen. Freilich, wenn es nach den Herzen der Regierungen
ginge, so würde noch einmal versucht, mit einer für die Bedürfnisse des Hurra¬
patriotismus zurechtgestutzten deutscheu Geschichte die Vaterlandslvsigleit der
Sozialdemokrntie zu bekämpfen. Viel Glück auf den Weg, aber womit be¬
kämpfen wir die Vaterlandslosigkeit der Börse? Nun, mit Titeln und Orden.


Oanl Harms


vom Mittelpunkte des Unterrichts

legt; Fritz Reuters Plattdeutsch ist seine echte und einzige Sprache, in der er
nicht bloß schrieb, sondern auch dachte; sein Hochdeutsch ist im Schreiben aus
dem Dialekt übersetzt. Darum ist sein Dialekt das starke Band, das ihn in
unlösbarer Verbindung erhält — mit dem unsterblichen Volk, hätt' ich beinah
mit Immermann gesagt. Die Mundart war Reuters starke Schutzwehr gegen
das Papierdeutsch, von dem er sich frei gehalten hat, wie kein andrer neu¬
hochdeutscher Dichter; die Stellen sind zu zählen, wo es in seine Sprache ein¬
gedrungen ist. Aber er schreibt nicht nur so, wie das Volk spricht, er hat
des Volkes plastische Darstellung meisterhaft fortgebildet. Man lese nach, mit
welch schöpferischer Kühnheit er am Schluß der „Festungstid" das unschein¬
bare Sprichwort: „Din Kahn geiht lau deip" zu einem poetischen Gemälde
ausgestaltet, das den Vergleich mit den besten im Homer nicht zu scheuen
braucht. Kommt noch hinzu, daß der niederdeutsche Sprachstamm manche
Eigentümlichkeiten älterer Stufen des Deutschen gewahrt hat, die dem Hoch¬
deutschen abhanden gekommen sind, so dürfte sich Wohl schwerlich ein Dichter
finden, der mit besseren Erfolge den ritterlichen Sängern der Stauferzeit die
Hand reichen könnte, um unser verkommnes Sprachgefühl aus dem Sumpf
zu ziehen.

Er ist ja auch lange tot, der „Königsmörder," dem die Haft auf preu¬
ßischen Festungen Lebenskraft und Lebensglück untergraben hatte. Man braucht
also nicht zu fürchten, daß er sich der Ehre noch freuen könnte, ein Lehrer
des deutschen Volkes zu werden. Oder fürchtet man, die edle Menschlichkeit
des niedersächsischen Bauern möchte anstecken, der von den Disteln, mit denen
altprenßische Beamte ihn gequält hatten, Feigen pflückte zur Erquickung für
sein ganzes Volk? Mich dünkt, es ist doch besser, daß ein edler Dichter unsre
Jugend über die traurigste Zeit belehrt, die unser Vaterland durchgemacht hat,
als daß man sie mit einer Binde um die Augen ins Leben laufen läßt auf
die Gefahr hin, daß sie den finstern Mächten zutreibe, die das Fundament
des Reiches unterwühlen. Freilich, wenn es nach den Herzen der Regierungen
ginge, so würde noch einmal versucht, mit einer für die Bedürfnisse des Hurra¬
patriotismus zurechtgestutzten deutscheu Geschichte die Vaterlandslvsigleit der
Sozialdemokrntie zu bekämpfen. Viel Glück auf den Weg, aber womit be¬
kämpfen wir die Vaterlandslosigkeit der Börse? Nun, mit Titeln und Orden.


Oanl Harms


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[0231] vom Mittelpunkte des Unterrichts legt; Fritz Reuters Plattdeutsch ist seine echte und einzige Sprache, in der er nicht bloß schrieb, sondern auch dachte; sein Hochdeutsch ist im Schreiben aus dem Dialekt übersetzt. Darum ist sein Dialekt das starke Band, das ihn in unlösbarer Verbindung erhält — mit dem unsterblichen Volk, hätt' ich beinah mit Immermann gesagt. Die Mundart war Reuters starke Schutzwehr gegen das Papierdeutsch, von dem er sich frei gehalten hat, wie kein andrer neu¬ hochdeutscher Dichter; die Stellen sind zu zählen, wo es in seine Sprache ein¬ gedrungen ist. Aber er schreibt nicht nur so, wie das Volk spricht, er hat des Volkes plastische Darstellung meisterhaft fortgebildet. Man lese nach, mit welch schöpferischer Kühnheit er am Schluß der „Festungstid" das unschein¬ bare Sprichwort: „Din Kahn geiht lau deip" zu einem poetischen Gemälde ausgestaltet, das den Vergleich mit den besten im Homer nicht zu scheuen braucht. Kommt noch hinzu, daß der niederdeutsche Sprachstamm manche Eigentümlichkeiten älterer Stufen des Deutschen gewahrt hat, die dem Hoch¬ deutschen abhanden gekommen sind, so dürfte sich Wohl schwerlich ein Dichter finden, der mit besseren Erfolge den ritterlichen Sängern der Stauferzeit die Hand reichen könnte, um unser verkommnes Sprachgefühl aus dem Sumpf zu ziehen. Er ist ja auch lange tot, der „Königsmörder," dem die Haft auf preu¬ ßischen Festungen Lebenskraft und Lebensglück untergraben hatte. Man braucht also nicht zu fürchten, daß er sich der Ehre noch freuen könnte, ein Lehrer des deutschen Volkes zu werden. Oder fürchtet man, die edle Menschlichkeit des niedersächsischen Bauern möchte anstecken, der von den Disteln, mit denen altprenßische Beamte ihn gequält hatten, Feigen pflückte zur Erquickung für sein ganzes Volk? Mich dünkt, es ist doch besser, daß ein edler Dichter unsre Jugend über die traurigste Zeit belehrt, die unser Vaterland durchgemacht hat, als daß man sie mit einer Binde um die Augen ins Leben laufen läßt auf die Gefahr hin, daß sie den finstern Mächten zutreibe, die das Fundament des Reiches unterwühlen. Freilich, wenn es nach den Herzen der Regierungen ginge, so würde noch einmal versucht, mit einer für die Bedürfnisse des Hurra¬ patriotismus zurechtgestutzten deutscheu Geschichte die Vaterlandslvsigleit der Sozialdemokrntie zu bekämpfen. Viel Glück auf den Weg, aber womit be¬ kämpfen wir die Vaterlandslosigkeit der Börse? Nun, mit Titeln und Orden. Oanl Harms

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/231>, abgerufen am 23.11.2024.