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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Geschichte des Ltcitsrats

lang genug geliebt, wir wollen endlich hassen." Allein auch er ist nicht so
religionslos, wie er sich stellt. Er verlangt, daß ihn der Herr Pastor mit
seinem "Geschwätz" in Ruhe lasse; weshalb? "Die Hölle ist schon auf Erden
hier." Die Sozinldemokratie würde ohne das alte Zauberwort der Nächsten-
und Menschenliebe keinen Eindruck auf die Massen machen. Sie will den
Fluch bannen, der auf der Arbeit ruht, damit der Haß "zur Heilgen Liebe"
werde. Scheu fragt:


Wer zieht als Apostel der Liebe durchs Land
Und predigt den darbenden Brüdern?

Anstatt der Jdeallosigteit kann man der Sozialdemokratin und ihre" Dichtern
eher eine Überspannung idealen Denkens und Strebens zum Vorwurf machen.
Die Idee und die Wirklichkeit werden sich nie völlig decken. Aber ebenso wenig
kaun die Wirklichkeit der begeisternden Idee entbehren. Der Irrtum, daß man
keinen Glauben und keine Ideale brauche, ist von andrer als sozialdemokra-
tischer Seite gepredigt worden. Das Extrem, in das sich die Sozialdemokratie
jetzt verrennt, bezeichnet nur die ingrimmige Reaktion gegen die ideallose Bour¬
geoisie, deren Götze der Mammon, deren König das Gold ist. Aus diesem
Widerstreit wird, wie wir hoffen, endlich eine Mittellinie der Wirklichkeit her¬
vorgehen, die weder Kapitalismus noch Kommunismus überschrieben ist. Das
Volk sehnt sich nach Idealen, gebt ihm seine Ideale wieder!




Die Geschichte des (Ltatsrats
Lharlotte Niese Von(Schluß)

r ist ein Rotürier! sagte Komteß Jsidvra von ihm zum Ge-
heimrat; mir kam es vor, als ob er sich seiner Eltern schämte!

Die Excellenz zuckte die Achseln: Wenn er nur eine Ge¬
schichte wüßte!

Aber der Etatsrat wußte keine Geschichte, diese traurige That¬
sache war bald stadtbekannt, und so begann sein Ansehen zu schwinden. Zwar
wurde er zu Theegesellschaften bei den Komtessen und beim Geheimrat eingeladen,
er führte auch immer eine sehr vornehme alte Dame zu Tische; aber er hatte
doch anch da dieselbe Empfindung wie am Stammtisch der Weinstube, man hatte
mehr von ihm erwartet. Das ist aber ein betrübendes Gefühl, und daher war
es nicht zu verwundern, daß sich der Etatsrat nach einem Wesen sehnte, mit
dem er sich einmal darüber aussprechen konnte. Da fand er aber niemand


Die Geschichte des Ltcitsrats

lang genug geliebt, wir wollen endlich hassen." Allein auch er ist nicht so
religionslos, wie er sich stellt. Er verlangt, daß ihn der Herr Pastor mit
seinem „Geschwätz" in Ruhe lasse; weshalb? „Die Hölle ist schon auf Erden
hier." Die Sozinldemokratie würde ohne das alte Zauberwort der Nächsten-
und Menschenliebe keinen Eindruck auf die Massen machen. Sie will den
Fluch bannen, der auf der Arbeit ruht, damit der Haß „zur Heilgen Liebe"
werde. Scheu fragt:


Wer zieht als Apostel der Liebe durchs Land
Und predigt den darbenden Brüdern?

Anstatt der Jdeallosigteit kann man der Sozialdemokratin und ihre» Dichtern
eher eine Überspannung idealen Denkens und Strebens zum Vorwurf machen.
Die Idee und die Wirklichkeit werden sich nie völlig decken. Aber ebenso wenig
kaun die Wirklichkeit der begeisternden Idee entbehren. Der Irrtum, daß man
keinen Glauben und keine Ideale brauche, ist von andrer als sozialdemokra-
tischer Seite gepredigt worden. Das Extrem, in das sich die Sozialdemokratie
jetzt verrennt, bezeichnet nur die ingrimmige Reaktion gegen die ideallose Bour¬
geoisie, deren Götze der Mammon, deren König das Gold ist. Aus diesem
Widerstreit wird, wie wir hoffen, endlich eine Mittellinie der Wirklichkeit her¬
vorgehen, die weder Kapitalismus noch Kommunismus überschrieben ist. Das
Volk sehnt sich nach Idealen, gebt ihm seine Ideale wieder!




Die Geschichte des (Ltatsrats
Lharlotte Niese Von(Schluß)

r ist ein Rotürier! sagte Komteß Jsidvra von ihm zum Ge-
heimrat; mir kam es vor, als ob er sich seiner Eltern schämte!

Die Excellenz zuckte die Achseln: Wenn er nur eine Ge¬
schichte wüßte!

Aber der Etatsrat wußte keine Geschichte, diese traurige That¬
sache war bald stadtbekannt, und so begann sein Ansehen zu schwinden. Zwar
wurde er zu Theegesellschaften bei den Komtessen und beim Geheimrat eingeladen,
er führte auch immer eine sehr vornehme alte Dame zu Tische; aber er hatte
doch anch da dieselbe Empfindung wie am Stammtisch der Weinstube, man hatte
mehr von ihm erwartet. Das ist aber ein betrübendes Gefühl, und daher war
es nicht zu verwundern, daß sich der Etatsrat nach einem Wesen sehnte, mit
dem er sich einmal darüber aussprechen konnte. Da fand er aber niemand


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[0086] Die Geschichte des Ltcitsrats lang genug geliebt, wir wollen endlich hassen." Allein auch er ist nicht so religionslos, wie er sich stellt. Er verlangt, daß ihn der Herr Pastor mit seinem „Geschwätz" in Ruhe lasse; weshalb? „Die Hölle ist schon auf Erden hier." Die Sozinldemokratie würde ohne das alte Zauberwort der Nächsten- und Menschenliebe keinen Eindruck auf die Massen machen. Sie will den Fluch bannen, der auf der Arbeit ruht, damit der Haß „zur Heilgen Liebe" werde. Scheu fragt: Wer zieht als Apostel der Liebe durchs Land Und predigt den darbenden Brüdern? Anstatt der Jdeallosigteit kann man der Sozialdemokratin und ihre» Dichtern eher eine Überspannung idealen Denkens und Strebens zum Vorwurf machen. Die Idee und die Wirklichkeit werden sich nie völlig decken. Aber ebenso wenig kaun die Wirklichkeit der begeisternden Idee entbehren. Der Irrtum, daß man keinen Glauben und keine Ideale brauche, ist von andrer als sozialdemokra- tischer Seite gepredigt worden. Das Extrem, in das sich die Sozialdemokratie jetzt verrennt, bezeichnet nur die ingrimmige Reaktion gegen die ideallose Bour¬ geoisie, deren Götze der Mammon, deren König das Gold ist. Aus diesem Widerstreit wird, wie wir hoffen, endlich eine Mittellinie der Wirklichkeit her¬ vorgehen, die weder Kapitalismus noch Kommunismus überschrieben ist. Das Volk sehnt sich nach Idealen, gebt ihm seine Ideale wieder! Die Geschichte des (Ltatsrats Lharlotte Niese Von(Schluß) r ist ein Rotürier! sagte Komteß Jsidvra von ihm zum Ge- heimrat; mir kam es vor, als ob er sich seiner Eltern schämte! Die Excellenz zuckte die Achseln: Wenn er nur eine Ge¬ schichte wüßte! Aber der Etatsrat wußte keine Geschichte, diese traurige That¬ sache war bald stadtbekannt, und so begann sein Ansehen zu schwinden. Zwar wurde er zu Theegesellschaften bei den Komtessen und beim Geheimrat eingeladen, er führte auch immer eine sehr vornehme alte Dame zu Tische; aber er hatte doch anch da dieselbe Empfindung wie am Stammtisch der Weinstube, man hatte mehr von ihm erwartet. Das ist aber ein betrübendes Gefühl, und daher war es nicht zu verwundern, daß sich der Etatsrat nach einem Wesen sehnte, mit dem er sich einmal darüber aussprechen konnte. Da fand er aber niemand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/86>, abgerufen am 29.06.2024.