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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Herr Richter und die Reichsverfassung

drückung ganzer großer Minderheiten beseitigt, die Herrschaft der bloßen Berufs¬
parlamentarier gebrochen, eine lebendige politische Gliederung des Volkes, an
der es jetzt nur allzusehr fehlt, wiederhergestellt, und das Zentrum wäre ge¬
sprengt, ohne daß die berechtigten Interessen der katholischen Kirche irgendwie
geschädigt würden. Die großen nationalen und idealen Gesichtspunkte aber
würden schon deshalb nicht zu kurz kommen, weil die geistige Aristokratie eine
sichere und ausgiebige Vertretung finden würde.

Solche Gedanken mögen jetzt, wo nähere Sorgen drängen, unzeitgemäß
und selbst thöricht erscheinen. Aber in weiten Kreisen herrscht die Empfindung,
daß es mit unserm Parlamentarismus nicht lange mehr so weiter gehen kann,
wenn der Reichstag nicht den letzten Rest seines Ansehens verlieren will, und
doch liegt der Grund seiner Gebrechen nicht so sehr in den Persönlichkeiten
als in dem Wahlrecht, wie es heute noch ist. Ob ein darnach gewühlter
Reichstag imstande sein wird, nicht nur die Militärvorlage im nationalen
Sinne zu erledigen, sondern auch die nicht minder wichtigen sozialpolitischen
Aufgaben, den Schutz oder vielmehr die Rettung des gewerblichen Mittelstandes
und der Landwirtschaft, zu lösen, das ist doch äußerst zweifelhaft. Freilich um
eine Parlamcntsrefvrm durchzuführen, dazu gehören wohl stärkere Kräfte, als
sie gegenwärtig unsrer Ncichsregieruug zur Verfügung stehen. Aber wo sich das
Bedürfnis unabweislich geltend macht, da wird sich auch der Wille finden, ihm
zu genügen, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Das Bedürfnis nach
einer Umgestaltung hat Fürst Bismarck längst erkannt und anerkannt; immer und
immer wieder hat er in der jüngsten Zeit die Handwerker und die Landwirte
darauf hingewiesen, sie möchten für sich selber im Reichstage sorgen, und der
Wert seiner Erfahrung und seines Genies hat sich seit seinem Rücktritt nicht
verringert.




Herr Richter und die Reichsverfassung

err von Hume hat am Schlüsse seiner bei der Beratung der
Militärvorlage gehaltnen Rede die Befürchtung ausgesprochen,
daß wir, wenn man nicht zu einer Verständigung mit der Re¬
gierung komme, einem innern Konflikte entgegentrieben, dem
vorzubeugen im allgemeinen Interesse liege. Herr Richter hat
in seiner Tags darauf gehaltnen Rede dies Wort des Herrn von Hume
aufgegriffen und es zu einem wirkungsvollen Abgange verwertet. Unter dein
sich stets erneuernden Jubel der klerikalen und nichtklerikalen Demokraten sagte


Herr Richter und die Reichsverfassung

drückung ganzer großer Minderheiten beseitigt, die Herrschaft der bloßen Berufs¬
parlamentarier gebrochen, eine lebendige politische Gliederung des Volkes, an
der es jetzt nur allzusehr fehlt, wiederhergestellt, und das Zentrum wäre ge¬
sprengt, ohne daß die berechtigten Interessen der katholischen Kirche irgendwie
geschädigt würden. Die großen nationalen und idealen Gesichtspunkte aber
würden schon deshalb nicht zu kurz kommen, weil die geistige Aristokratie eine
sichere und ausgiebige Vertretung finden würde.

Solche Gedanken mögen jetzt, wo nähere Sorgen drängen, unzeitgemäß
und selbst thöricht erscheinen. Aber in weiten Kreisen herrscht die Empfindung,
daß es mit unserm Parlamentarismus nicht lange mehr so weiter gehen kann,
wenn der Reichstag nicht den letzten Rest seines Ansehens verlieren will, und
doch liegt der Grund seiner Gebrechen nicht so sehr in den Persönlichkeiten
als in dem Wahlrecht, wie es heute noch ist. Ob ein darnach gewühlter
Reichstag imstande sein wird, nicht nur die Militärvorlage im nationalen
Sinne zu erledigen, sondern auch die nicht minder wichtigen sozialpolitischen
Aufgaben, den Schutz oder vielmehr die Rettung des gewerblichen Mittelstandes
und der Landwirtschaft, zu lösen, das ist doch äußerst zweifelhaft. Freilich um
eine Parlamcntsrefvrm durchzuführen, dazu gehören wohl stärkere Kräfte, als
sie gegenwärtig unsrer Ncichsregieruug zur Verfügung stehen. Aber wo sich das
Bedürfnis unabweislich geltend macht, da wird sich auch der Wille finden, ihm
zu genügen, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Das Bedürfnis nach
einer Umgestaltung hat Fürst Bismarck längst erkannt und anerkannt; immer und
immer wieder hat er in der jüngsten Zeit die Handwerker und die Landwirte
darauf hingewiesen, sie möchten für sich selber im Reichstage sorgen, und der
Wert seiner Erfahrung und seines Genies hat sich seit seinem Rücktritt nicht
verringert.




Herr Richter und die Reichsverfassung

err von Hume hat am Schlüsse seiner bei der Beratung der
Militärvorlage gehaltnen Rede die Befürchtung ausgesprochen,
daß wir, wenn man nicht zu einer Verständigung mit der Re¬
gierung komme, einem innern Konflikte entgegentrieben, dem
vorzubeugen im allgemeinen Interesse liege. Herr Richter hat
in seiner Tags darauf gehaltnen Rede dies Wort des Herrn von Hume
aufgegriffen und es zu einem wirkungsvollen Abgange verwertet. Unter dein
sich stets erneuernden Jubel der klerikalen und nichtklerikalen Demokraten sagte


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[0351] Herr Richter und die Reichsverfassung drückung ganzer großer Minderheiten beseitigt, die Herrschaft der bloßen Berufs¬ parlamentarier gebrochen, eine lebendige politische Gliederung des Volkes, an der es jetzt nur allzusehr fehlt, wiederhergestellt, und das Zentrum wäre ge¬ sprengt, ohne daß die berechtigten Interessen der katholischen Kirche irgendwie geschädigt würden. Die großen nationalen und idealen Gesichtspunkte aber würden schon deshalb nicht zu kurz kommen, weil die geistige Aristokratie eine sichere und ausgiebige Vertretung finden würde. Solche Gedanken mögen jetzt, wo nähere Sorgen drängen, unzeitgemäß und selbst thöricht erscheinen. Aber in weiten Kreisen herrscht die Empfindung, daß es mit unserm Parlamentarismus nicht lange mehr so weiter gehen kann, wenn der Reichstag nicht den letzten Rest seines Ansehens verlieren will, und doch liegt der Grund seiner Gebrechen nicht so sehr in den Persönlichkeiten als in dem Wahlrecht, wie es heute noch ist. Ob ein darnach gewühlter Reichstag imstande sein wird, nicht nur die Militärvorlage im nationalen Sinne zu erledigen, sondern auch die nicht minder wichtigen sozialpolitischen Aufgaben, den Schutz oder vielmehr die Rettung des gewerblichen Mittelstandes und der Landwirtschaft, zu lösen, das ist doch äußerst zweifelhaft. Freilich um eine Parlamcntsrefvrm durchzuführen, dazu gehören wohl stärkere Kräfte, als sie gegenwärtig unsrer Ncichsregieruug zur Verfügung stehen. Aber wo sich das Bedürfnis unabweislich geltend macht, da wird sich auch der Wille finden, ihm zu genügen, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Das Bedürfnis nach einer Umgestaltung hat Fürst Bismarck längst erkannt und anerkannt; immer und immer wieder hat er in der jüngsten Zeit die Handwerker und die Landwirte darauf hingewiesen, sie möchten für sich selber im Reichstage sorgen, und der Wert seiner Erfahrung und seines Genies hat sich seit seinem Rücktritt nicht verringert. Herr Richter und die Reichsverfassung err von Hume hat am Schlüsse seiner bei der Beratung der Militärvorlage gehaltnen Rede die Befürchtung ausgesprochen, daß wir, wenn man nicht zu einer Verständigung mit der Re¬ gierung komme, einem innern Konflikte entgegentrieben, dem vorzubeugen im allgemeinen Interesse liege. Herr Richter hat in seiner Tags darauf gehaltnen Rede dies Wort des Herrn von Hume aufgegriffen und es zu einem wirkungsvollen Abgange verwertet. Unter dein sich stets erneuernden Jubel der klerikalen und nichtklerikalen Demokraten sagte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/351>, abgerufen am 29.06.2024.