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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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jDarlamentsreform

ufgclöst! Dieses Wort, das am Nachmittage des 6. Mai der
Telegraph aller Welt verkündigte, hat weit und breit im Reiche
wie eine Erlösung von schwerem Druck gewirkt. Nur die Frei¬
sinnigen und das Zentrum, die Lieblinge des "neuen Kurses,"
die jene glänzende Mehrheit gegen daS alte Kartell bildeten,
trauern mit gebrochnen Flügeln, denn ihre Einheit ist zersprengt, und ihre
Führer werden vielleicht schon jetzt zu der Einsicht gekommen sein oder doch
bald kommen, wie unendlich thöricht es gewesen ist, eine Ncichsregiernng, die
so, viele Neigung zeigte, sich auf sie zu stützen, mit aller Gewalt auf die Seite
der Parteien zu treiben, die man seit drei Jahren an die Wand zu drücken
so eifrig bemüht gewesen ist. Graf Caprivi hatte den alten Satz vergessen,
daß die Staaten mit denselben Mitteln erhalten werden, mit denen sie ge¬
gründet worden sind; er wird jetzt hoffentlich eingesehen haben, daß das ein
schwerer Fehler war, und daß nichts so sehr die pessimistische Verstimmung in
allen gut national gesinnten Kreisen hervorgerufen und immer wieder genährt
hat, als die Umkehr des natürlichen Verhältnisses. Mit der radikalen Demo¬
kratie läßt sich nun einmal ein monarchischer Militürstaat nicht regieren, und die
hierarchischen Ansprüche wird kein moderner Staat befriedigen können. Aber es
kommt noch ein zweiter Grund hinzu, daß wir uns dieser Auflösung freuen
als eiuer Erlösung, und dazu haben alle Parteien das ihrige redlich beigetragen.
Dieser Reichstag hat sich selber ein unvergängliches Denkmal errichtet, aber
kein ehrenvolles. Er hat den traurige" Ruhm, der schlechteste gewesen zu
sein seit der Errichtung des Reichs, deu Ruhm, die deutsche Volksvertretung
vor den Augen aller Welt in einer Weise herabgesetzt zu haben, wie es selten
ein Parlament fertig gebracht hat. Nur selten war er beschlußfähig, und das,
was im Volke wirklich lebte, kam in diesem Reichstage nicht zum Ausdruck.


Grouzlwteu II 1893 43


jDarlamentsreform

ufgclöst! Dieses Wort, das am Nachmittage des 6. Mai der
Telegraph aller Welt verkündigte, hat weit und breit im Reiche
wie eine Erlösung von schwerem Druck gewirkt. Nur die Frei¬
sinnigen und das Zentrum, die Lieblinge des „neuen Kurses,"
die jene glänzende Mehrheit gegen daS alte Kartell bildeten,
trauern mit gebrochnen Flügeln, denn ihre Einheit ist zersprengt, und ihre
Führer werden vielleicht schon jetzt zu der Einsicht gekommen sein oder doch
bald kommen, wie unendlich thöricht es gewesen ist, eine Ncichsregiernng, die
so, viele Neigung zeigte, sich auf sie zu stützen, mit aller Gewalt auf die Seite
der Parteien zu treiben, die man seit drei Jahren an die Wand zu drücken
so eifrig bemüht gewesen ist. Graf Caprivi hatte den alten Satz vergessen,
daß die Staaten mit denselben Mitteln erhalten werden, mit denen sie ge¬
gründet worden sind; er wird jetzt hoffentlich eingesehen haben, daß das ein
schwerer Fehler war, und daß nichts so sehr die pessimistische Verstimmung in
allen gut national gesinnten Kreisen hervorgerufen und immer wieder genährt
hat, als die Umkehr des natürlichen Verhältnisses. Mit der radikalen Demo¬
kratie läßt sich nun einmal ein monarchischer Militürstaat nicht regieren, und die
hierarchischen Ansprüche wird kein moderner Staat befriedigen können. Aber es
kommt noch ein zweiter Grund hinzu, daß wir uns dieser Auflösung freuen
als eiuer Erlösung, und dazu haben alle Parteien das ihrige redlich beigetragen.
Dieser Reichstag hat sich selber ein unvergängliches Denkmal errichtet, aber
kein ehrenvolles. Er hat den traurige» Ruhm, der schlechteste gewesen zu
sein seit der Errichtung des Reichs, deu Ruhm, die deutsche Volksvertretung
vor den Augen aller Welt in einer Weise herabgesetzt zu haben, wie es selten
ein Parlament fertig gebracht hat. Nur selten war er beschlußfähig, und das,
was im Volke wirklich lebte, kam in diesem Reichstage nicht zum Ausdruck.


Grouzlwteu II 1893 43
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[0346] [Abbildung] jDarlamentsreform ufgclöst! Dieses Wort, das am Nachmittage des 6. Mai der Telegraph aller Welt verkündigte, hat weit und breit im Reiche wie eine Erlösung von schwerem Druck gewirkt. Nur die Frei¬ sinnigen und das Zentrum, die Lieblinge des „neuen Kurses," die jene glänzende Mehrheit gegen daS alte Kartell bildeten, trauern mit gebrochnen Flügeln, denn ihre Einheit ist zersprengt, und ihre Führer werden vielleicht schon jetzt zu der Einsicht gekommen sein oder doch bald kommen, wie unendlich thöricht es gewesen ist, eine Ncichsregiernng, die so, viele Neigung zeigte, sich auf sie zu stützen, mit aller Gewalt auf die Seite der Parteien zu treiben, die man seit drei Jahren an die Wand zu drücken so eifrig bemüht gewesen ist. Graf Caprivi hatte den alten Satz vergessen, daß die Staaten mit denselben Mitteln erhalten werden, mit denen sie ge¬ gründet worden sind; er wird jetzt hoffentlich eingesehen haben, daß das ein schwerer Fehler war, und daß nichts so sehr die pessimistische Verstimmung in allen gut national gesinnten Kreisen hervorgerufen und immer wieder genährt hat, als die Umkehr des natürlichen Verhältnisses. Mit der radikalen Demo¬ kratie läßt sich nun einmal ein monarchischer Militürstaat nicht regieren, und die hierarchischen Ansprüche wird kein moderner Staat befriedigen können. Aber es kommt noch ein zweiter Grund hinzu, daß wir uns dieser Auflösung freuen als eiuer Erlösung, und dazu haben alle Parteien das ihrige redlich beigetragen. Dieser Reichstag hat sich selber ein unvergängliches Denkmal errichtet, aber kein ehrenvolles. Er hat den traurige» Ruhm, der schlechteste gewesen zu sein seit der Errichtung des Reichs, deu Ruhm, die deutsche Volksvertretung vor den Augen aller Welt in einer Weise herabgesetzt zu haben, wie es selten ein Parlament fertig gebracht hat. Nur selten war er beschlußfähig, und das, was im Volke wirklich lebte, kam in diesem Reichstage nicht zum Ausdruck. Grouzlwteu II 1893 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/346>, abgerufen am 29.06.2024.