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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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höhere Schule ihre Zöglinge vor allen Dingen lehren, wie die moderne
Wissenschaft die Dinge betrachtet, und nehmen wir in die Grundlage dann
noch Geschichte ans, Geschichte anch im weitesten Sinne, dann läßt sich aller¬
dings auf kulturhistorisch-neusprachlich-naturwissenschaftlicher Grundlage eine
harmonische Bildung aufbauen, eine Bildung, die den Schüler befähigt, das
Wissen der Gegenwart in sich aufzunehmen und zu dem Wollen der Gegen¬
wart mitzusprechen. Aber freilich, dazu müßte noch mancherlei geschaffen
werden. Dazu müßten z. B. in den Sprachunterricht die Grundzüge der
historischen Grammatik aufgenommen werden. Und soll dem Schüler diese
wirklich verständlich und nutzbar werden, so müßte es -- die deutsche Grammatik
sei"! Wie aber könnte ein deutscher Kultusminister zugeben, daß an einer
deutschen Schule statt Horaz und Virgil Walther von der Vogelweide und die
Nibelungen, daß statt des griechischen Testaments Otfried und Wulfila gelesen
würden! Da könnte ja am Ende ein tiefes Interesse für die Muttersprache
das Ergebnis des deutschen Unterrichts werden, und das möchte sich am Ende
gar in ein noch tieferes Interesse für die Entwicklung deutscher Kultur ver¬
wandeln. Bei solchem Bruch mit aller Überlieferung unsrer höhern Schule
könnte der Zusammenbrach aller Kultur überhaupt nicht mehr fern sein. Heil
unsern Schulverwnltungeu, die uns vor diesem Unheil bisher mit so viel Er¬
folg bewahrt haben!


Harms


Friedrich Hebbels Briefwechsel
Adolf Stern von

reißig Jahre oder doch fast dreißig Jahre sind seit dem frühen
Tode Friedrich Hebbels verflossen, und sie haben zugleich
die Geltung des Dichters in der deutschen Litteratur befestigt
und die Meinung über ihn wesentlich geklärt. Nicht bloß der
nie ruhende Prozeß, durch deu bleibende und nachwirkende Er¬
scheinungen von den vorübergehenden geschieden werden (ein Prozeß, bei dem
es ohne Willkür und Härten nicht immer abgeht), sondern auch das angestrengte
Bemühen überlebender°Freunde für Wahrung seines Andenkens und Erkenntnis
seiner dichterischen Persönlichkeit, die wachsende Einsicht endlich, daß gro߬
angelegte und großes wollende Naturen die lebendige Teilnahme, die ihnen
gewidmet wird, nie umsonst fordern und selbst mit ihren Irrtümern und Män¬
geln noch bezahlen, haben hierzu zusammengewirkt. Es ist freilich wahr, daß


höhere Schule ihre Zöglinge vor allen Dingen lehren, wie die moderne
Wissenschaft die Dinge betrachtet, und nehmen wir in die Grundlage dann
noch Geschichte ans, Geschichte anch im weitesten Sinne, dann läßt sich aller¬
dings auf kulturhistorisch-neusprachlich-naturwissenschaftlicher Grundlage eine
harmonische Bildung aufbauen, eine Bildung, die den Schüler befähigt, das
Wissen der Gegenwart in sich aufzunehmen und zu dem Wollen der Gegen¬
wart mitzusprechen. Aber freilich, dazu müßte noch mancherlei geschaffen
werden. Dazu müßten z. B. in den Sprachunterricht die Grundzüge der
historischen Grammatik aufgenommen werden. Und soll dem Schüler diese
wirklich verständlich und nutzbar werden, so müßte es — die deutsche Grammatik
sei»! Wie aber könnte ein deutscher Kultusminister zugeben, daß an einer
deutschen Schule statt Horaz und Virgil Walther von der Vogelweide und die
Nibelungen, daß statt des griechischen Testaments Otfried und Wulfila gelesen
würden! Da könnte ja am Ende ein tiefes Interesse für die Muttersprache
das Ergebnis des deutschen Unterrichts werden, und das möchte sich am Ende
gar in ein noch tieferes Interesse für die Entwicklung deutscher Kultur ver¬
wandeln. Bei solchem Bruch mit aller Überlieferung unsrer höhern Schule
könnte der Zusammenbrach aller Kultur überhaupt nicht mehr fern sein. Heil
unsern Schulverwnltungeu, die uns vor diesem Unheil bisher mit so viel Er¬
folg bewahrt haben!


Harms


Friedrich Hebbels Briefwechsel
Adolf Stern von

reißig Jahre oder doch fast dreißig Jahre sind seit dem frühen
Tode Friedrich Hebbels verflossen, und sie haben zugleich
die Geltung des Dichters in der deutschen Litteratur befestigt
und die Meinung über ihn wesentlich geklärt. Nicht bloß der
nie ruhende Prozeß, durch deu bleibende und nachwirkende Er¬
scheinungen von den vorübergehenden geschieden werden (ein Prozeß, bei dem
es ohne Willkür und Härten nicht immer abgeht), sondern auch das angestrengte
Bemühen überlebender°Freunde für Wahrung seines Andenkens und Erkenntnis
seiner dichterischen Persönlichkeit, die wachsende Einsicht endlich, daß gro߬
angelegte und großes wollende Naturen die lebendige Teilnahme, die ihnen
gewidmet wird, nie umsonst fordern und selbst mit ihren Irrtümern und Män¬
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[0220] höhere Schule ihre Zöglinge vor allen Dingen lehren, wie die moderne Wissenschaft die Dinge betrachtet, und nehmen wir in die Grundlage dann noch Geschichte ans, Geschichte anch im weitesten Sinne, dann läßt sich aller¬ dings auf kulturhistorisch-neusprachlich-naturwissenschaftlicher Grundlage eine harmonische Bildung aufbauen, eine Bildung, die den Schüler befähigt, das Wissen der Gegenwart in sich aufzunehmen und zu dem Wollen der Gegen¬ wart mitzusprechen. Aber freilich, dazu müßte noch mancherlei geschaffen werden. Dazu müßten z. B. in den Sprachunterricht die Grundzüge der historischen Grammatik aufgenommen werden. Und soll dem Schüler diese wirklich verständlich und nutzbar werden, so müßte es — die deutsche Grammatik sei»! Wie aber könnte ein deutscher Kultusminister zugeben, daß an einer deutschen Schule statt Horaz und Virgil Walther von der Vogelweide und die Nibelungen, daß statt des griechischen Testaments Otfried und Wulfila gelesen würden! Da könnte ja am Ende ein tiefes Interesse für die Muttersprache das Ergebnis des deutschen Unterrichts werden, und das möchte sich am Ende gar in ein noch tieferes Interesse für die Entwicklung deutscher Kultur ver¬ wandeln. Bei solchem Bruch mit aller Überlieferung unsrer höhern Schule könnte der Zusammenbrach aller Kultur überhaupt nicht mehr fern sein. Heil unsern Schulverwnltungeu, die uns vor diesem Unheil bisher mit so viel Er¬ folg bewahrt haben! Harms Friedrich Hebbels Briefwechsel Adolf Stern von reißig Jahre oder doch fast dreißig Jahre sind seit dem frühen Tode Friedrich Hebbels verflossen, und sie haben zugleich die Geltung des Dichters in der deutschen Litteratur befestigt und die Meinung über ihn wesentlich geklärt. Nicht bloß der nie ruhende Prozeß, durch deu bleibende und nachwirkende Er¬ scheinungen von den vorübergehenden geschieden werden (ein Prozeß, bei dem es ohne Willkür und Härten nicht immer abgeht), sondern auch das angestrengte Bemühen überlebender°Freunde für Wahrung seines Andenkens und Erkenntnis seiner dichterischen Persönlichkeit, die wachsende Einsicht endlich, daß gro߬ angelegte und großes wollende Naturen die lebendige Teilnahme, die ihnen gewidmet wird, nie umsonst fordern und selbst mit ihren Irrtümern und Män¬ geln noch bezahlen, haben hierzu zusammengewirkt. Es ist freilich wahr, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/220>, abgerufen am 03.07.2024.