Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die christliche (Lthik in der Gegenwart

an könnte fragen, ob es richtig sei, Gegenstände wie die christ¬
liche Ethik an dieser Stelle zur Sprache zu bringen. Man
könnte sagen, so etwas gehöre in die theologischen Fachblätter
oder in Erbauuugszeitschriften. Und es ist auch noch nicht lange
her, daß dies die allgemeine Meinung der gebildeten Kreise war.
Religiöse Fragen waren von der Behandlung ausgeschlossen; man redete nicht gern
davon, man überließ die Kirche und das Christentum den Frauen und Kindern
und glaubte durch die Philosophie, durch die Spekulationen der Naturwissen-
schaften und durch den Kultus der Kunst (und der Künstler) einen ausreichenden
Ersatz gefunden zu haben.

Inzwischen hat sich doch gezeigt, daß diese Ersatzmittel niemand befrie¬
digten, daß Leute, die sich für hochgebildet und vorurteilsfrei gehalten hatten,
merkwürdigerweise selbst ein religiöses Bedürfnis hatten. Man empfand es
auf die Dauer als unerträglich, die Eudfragen in der Schwebe lassen zu sollen,
und sehnte sich nach einem endgiltigen, sicher" Worte, und wenn es auch die
Behauptung eines Glaubenssatzes gewesen wäre. Auch im Leben, im Volke
zeigte sich das Christentum als unentbehrlich. Und so traten denn die religiösen
Fragen wieder in den Vordergrund, und gegenwärtig bilden sie überall da,
wo Sinn für geistige Güter vorhanden ist, den Gegenstand ernster Erwägungen.

Hierbei scheint nun die christliche Ethik von besondrer Wichtigkeit zu
sein, da sie einen Vereinigungspunkt darbieten könnte für solche, die sich ans
Grund von Glaubenssätzen nicht zu vereinigen vermögen. Ob dies zu hoffen
ist, wird davon abhängen, ob die christliche Ethik abgetrennt von dem christ¬
lichen Glanben etwas selbständiges darstellt. Auch ist die Frage von Bedeu¬
tung, ob dieser christlichem Ethik die treibende Kraft innewohnt, die von manchem


Grenzboten III 1892 25


Die christliche (Lthik in der Gegenwart

an könnte fragen, ob es richtig sei, Gegenstände wie die christ¬
liche Ethik an dieser Stelle zur Sprache zu bringen. Man
könnte sagen, so etwas gehöre in die theologischen Fachblätter
oder in Erbauuugszeitschriften. Und es ist auch noch nicht lange
her, daß dies die allgemeine Meinung der gebildeten Kreise war.
Religiöse Fragen waren von der Behandlung ausgeschlossen; man redete nicht gern
davon, man überließ die Kirche und das Christentum den Frauen und Kindern
und glaubte durch die Philosophie, durch die Spekulationen der Naturwissen-
schaften und durch den Kultus der Kunst (und der Künstler) einen ausreichenden
Ersatz gefunden zu haben.

Inzwischen hat sich doch gezeigt, daß diese Ersatzmittel niemand befrie¬
digten, daß Leute, die sich für hochgebildet und vorurteilsfrei gehalten hatten,
merkwürdigerweise selbst ein religiöses Bedürfnis hatten. Man empfand es
auf die Dauer als unerträglich, die Eudfragen in der Schwebe lassen zu sollen,
und sehnte sich nach einem endgiltigen, sicher» Worte, und wenn es auch die
Behauptung eines Glaubenssatzes gewesen wäre. Auch im Leben, im Volke
zeigte sich das Christentum als unentbehrlich. Und so traten denn die religiösen
Fragen wieder in den Vordergrund, und gegenwärtig bilden sie überall da,
wo Sinn für geistige Güter vorhanden ist, den Gegenstand ernster Erwägungen.

Hierbei scheint nun die christliche Ethik von besondrer Wichtigkeit zu
sein, da sie einen Vereinigungspunkt darbieten könnte für solche, die sich ans
Grund von Glaubenssätzen nicht zu vereinigen vermögen. Ob dies zu hoffen
ist, wird davon abhängen, ob die christliche Ethik abgetrennt von dem christ¬
lichen Glanben etwas selbständiges darstellt. Auch ist die Frage von Bedeu¬
tung, ob dieser christlichem Ethik die treibende Kraft innewohnt, die von manchem


Grenzboten III 1892 25
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0201" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212677"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341855_212475/figures/grenzboten_341855_212475_212677_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die christliche (Lthik in der Gegenwart</head><lb/>
          <p xml:id="ID_663"> an könnte fragen, ob es richtig sei, Gegenstände wie die christ¬<lb/>
liche Ethik an dieser Stelle zur Sprache zu bringen. Man<lb/>
könnte sagen, so etwas gehöre in die theologischen Fachblätter<lb/>
oder in Erbauuugszeitschriften. Und es ist auch noch nicht lange<lb/>
her, daß dies die allgemeine Meinung der gebildeten Kreise war.<lb/>
Religiöse Fragen waren von der Behandlung ausgeschlossen; man redete nicht gern<lb/>
davon, man überließ die Kirche und das Christentum den Frauen und Kindern<lb/>
und glaubte durch die Philosophie, durch die Spekulationen der Naturwissen-<lb/>
schaften und durch den Kultus der Kunst (und der Künstler) einen ausreichenden<lb/>
Ersatz gefunden zu haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_664"> Inzwischen hat sich doch gezeigt, daß diese Ersatzmittel niemand befrie¬<lb/>
digten, daß Leute, die sich für hochgebildet und vorurteilsfrei gehalten hatten,<lb/>
merkwürdigerweise selbst ein religiöses Bedürfnis hatten. Man empfand es<lb/>
auf die Dauer als unerträglich, die Eudfragen in der Schwebe lassen zu sollen,<lb/>
und sehnte sich nach einem endgiltigen, sicher» Worte, und wenn es auch die<lb/>
Behauptung eines Glaubenssatzes gewesen wäre. Auch im Leben, im Volke<lb/>
zeigte sich das Christentum als unentbehrlich. Und so traten denn die religiösen<lb/>
Fragen wieder in den Vordergrund, und gegenwärtig bilden sie überall da,<lb/>
wo Sinn für geistige Güter vorhanden ist, den Gegenstand ernster Erwägungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_665" next="#ID_666"> Hierbei scheint nun die christliche Ethik von besondrer Wichtigkeit zu<lb/>
sein, da sie einen Vereinigungspunkt darbieten könnte für solche, die sich ans<lb/>
Grund von Glaubenssätzen nicht zu vereinigen vermögen. Ob dies zu hoffen<lb/>
ist, wird davon abhängen, ob die christliche Ethik abgetrennt von dem christ¬<lb/>
lichen Glanben etwas selbständiges darstellt. Auch ist die Frage von Bedeu¬<lb/>
tung, ob dieser christlichem Ethik die treibende Kraft innewohnt, die von manchem</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1892 25</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0201] [Abbildung] Die christliche (Lthik in der Gegenwart an könnte fragen, ob es richtig sei, Gegenstände wie die christ¬ liche Ethik an dieser Stelle zur Sprache zu bringen. Man könnte sagen, so etwas gehöre in die theologischen Fachblätter oder in Erbauuugszeitschriften. Und es ist auch noch nicht lange her, daß dies die allgemeine Meinung der gebildeten Kreise war. Religiöse Fragen waren von der Behandlung ausgeschlossen; man redete nicht gern davon, man überließ die Kirche und das Christentum den Frauen und Kindern und glaubte durch die Philosophie, durch die Spekulationen der Naturwissen- schaften und durch den Kultus der Kunst (und der Künstler) einen ausreichenden Ersatz gefunden zu haben. Inzwischen hat sich doch gezeigt, daß diese Ersatzmittel niemand befrie¬ digten, daß Leute, die sich für hochgebildet und vorurteilsfrei gehalten hatten, merkwürdigerweise selbst ein religiöses Bedürfnis hatten. Man empfand es auf die Dauer als unerträglich, die Eudfragen in der Schwebe lassen zu sollen, und sehnte sich nach einem endgiltigen, sicher» Worte, und wenn es auch die Behauptung eines Glaubenssatzes gewesen wäre. Auch im Leben, im Volke zeigte sich das Christentum als unentbehrlich. Und so traten denn die religiösen Fragen wieder in den Vordergrund, und gegenwärtig bilden sie überall da, wo Sinn für geistige Güter vorhanden ist, den Gegenstand ernster Erwägungen. Hierbei scheint nun die christliche Ethik von besondrer Wichtigkeit zu sein, da sie einen Vereinigungspunkt darbieten könnte für solche, die sich ans Grund von Glaubenssätzen nicht zu vereinigen vermögen. Ob dies zu hoffen ist, wird davon abhängen, ob die christliche Ethik abgetrennt von dem christ¬ lichen Glanben etwas selbständiges darstellt. Auch ist die Frage von Bedeu¬ tung, ob dieser christlichem Ethik die treibende Kraft innewohnt, die von manchem Grenzboten III 1892 25

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/201
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/201>, abgerufen am 05.01.2025.