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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

sich längst entwöhnt hat, mit den Worten irgend einen Begriff zu verbinden, betet
die Beschuldigung gläubig nach und wird am Ende selbst überzeugt, das; alles,
was sich nicht naturalistisch geberdet, schon deshalb akademisch sei. Es ist un¬
gefähr, als wenn gegen jede Kleidung, die nicht zerrissen und zerschlissen ist, die
Behauptung geschleudert würde, daß sie geckenhaft sei. Ans diese Weise könnte ein
Mensch, der im einfachsten, aber in anständigem Rocke, ja nnr in reinlicher Bluse ein¬
hergeht, dazu kommen, unter die Modenarren gerechnet und >, Gigerl" genannt zu
werden. Unsre zu Zeiten von geradezu unglaublich flachen und bildungslosen Ge¬
sellen bediente Tagespresse scheint die Worte: innerlich, vornehm, reif, schön und
anmutig, klar, durchgebildet, plastisch, stilistisch rein mit dem Wort akademisch nicht
nnr für sinnverwandt, sondern für völlig gleichbedeutend zu halten. Durchaus
lebensvolle, innerlich warme, aus dem eigensten Leben ihrer Dichter hervorge¬
gangn Werke müssen sich gefallen lassen, mit dem Worte akademisch abgefertigt
zu werden.

Nun wirkt es geradezu verderblich, wenn einem leidlich feststehenden Begriffe
plötzlich ein durchaus andrer Sinn untergelegt wird, denn die herrschende Ver¬
wirrung in ästhetischen Dingen ist ohnehin groß genug, und wenn es so weiter¬
geht, würde akademisch noch zum Ehrennamen für alle gut geschrielmen und die
lichtern Erscheinungen des Lebens mit künstlerischer Frende wiedergebenden Bücher
werden. Es ist jedoch im höchsten Maße wünschenswert, daß der Unterschied
zwischen lebensvollen und leblosen Dichtungen, zwischeu wirklichen Schöpfungen und
bloßen Nachahmungen, zwischen Empfindung und Anempfinduug weder vergessen
noch verwischt werde. Die unterschiedslose Geringschätzung, die der litterarische
Anarchismus über alle Leistungen verhängt, die den revolutionären Stempel nicht
tragen, würde erst denn zur ernsten Gefahr für unser geistiges Leben werden,
wenn wir umgekehrt verlernte", in der Gesamtmasse der als akademisch verunglimpften
Dichtung die echt schöpferischen Naturen und Werke zu erkennen. Es ist lange
her, daß Friedrich Hebbel in einem seiner schönsten Epigramme daran gemahnt hat,
nicht mit dem Joche das Maß zu zerbrechen, und die Frage aufwarf: "Wer setzte
Barbaren im Ungebnndnen die Grenze?" Aber Mahnung und Frage sind heute
mehr als je am Platze, wo das mißbrauchte Schlngwort "akademisch" die Luft
durchschwirrt. Am letzten Ende wird doch wieder das wundervolle Wort des
Dichters gelten:


Seien die Stempel uns heilig, die alle Jahrhunderte brauchten,
Sei es die Weise sogar, die sie bedächtig gewählt;
Fand ein Goethe doch Raum in diesen gemessenen Schranken,
Wären sie plötzlich zu eng für die Heroen vdn heut?
Gleichen wir der Natur, die nie das Wunder der Schöpfung
Wiederholt und doch jährlich im Lenz sich erneut:
Alt sind die Formen, es kehren die Lilien wieder und Rosen,
Frisch ist der Dust, und im Kranz thut sich der Meister hervor!





Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunom in Leipzig
Verlag von Fr, Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

sich längst entwöhnt hat, mit den Worten irgend einen Begriff zu verbinden, betet
die Beschuldigung gläubig nach und wird am Ende selbst überzeugt, das; alles,
was sich nicht naturalistisch geberdet, schon deshalb akademisch sei. Es ist un¬
gefähr, als wenn gegen jede Kleidung, die nicht zerrissen und zerschlissen ist, die
Behauptung geschleudert würde, daß sie geckenhaft sei. Ans diese Weise könnte ein
Mensch, der im einfachsten, aber in anständigem Rocke, ja nnr in reinlicher Bluse ein¬
hergeht, dazu kommen, unter die Modenarren gerechnet und >, Gigerl" genannt zu
werden. Unsre zu Zeiten von geradezu unglaublich flachen und bildungslosen Ge¬
sellen bediente Tagespresse scheint die Worte: innerlich, vornehm, reif, schön und
anmutig, klar, durchgebildet, plastisch, stilistisch rein mit dem Wort akademisch nicht
nnr für sinnverwandt, sondern für völlig gleichbedeutend zu halten. Durchaus
lebensvolle, innerlich warme, aus dem eigensten Leben ihrer Dichter hervorge¬
gangn Werke müssen sich gefallen lassen, mit dem Worte akademisch abgefertigt
zu werden.

Nun wirkt es geradezu verderblich, wenn einem leidlich feststehenden Begriffe
plötzlich ein durchaus andrer Sinn untergelegt wird, denn die herrschende Ver¬
wirrung in ästhetischen Dingen ist ohnehin groß genug, und wenn es so weiter¬
geht, würde akademisch noch zum Ehrennamen für alle gut geschrielmen und die
lichtern Erscheinungen des Lebens mit künstlerischer Frende wiedergebenden Bücher
werden. Es ist jedoch im höchsten Maße wünschenswert, daß der Unterschied
zwischen lebensvollen und leblosen Dichtungen, zwischeu wirklichen Schöpfungen und
bloßen Nachahmungen, zwischen Empfindung und Anempfinduug weder vergessen
noch verwischt werde. Die unterschiedslose Geringschätzung, die der litterarische
Anarchismus über alle Leistungen verhängt, die den revolutionären Stempel nicht
tragen, würde erst denn zur ernsten Gefahr für unser geistiges Leben werden,
wenn wir umgekehrt verlernte», in der Gesamtmasse der als akademisch verunglimpften
Dichtung die echt schöpferischen Naturen und Werke zu erkennen. Es ist lange
her, daß Friedrich Hebbel in einem seiner schönsten Epigramme daran gemahnt hat,
nicht mit dem Joche das Maß zu zerbrechen, und die Frage aufwarf: „Wer setzte
Barbaren im Ungebnndnen die Grenze?" Aber Mahnung und Frage sind heute
mehr als je am Platze, wo das mißbrauchte Schlngwort „akademisch" die Luft
durchschwirrt. Am letzten Ende wird doch wieder das wundervolle Wort des
Dichters gelten:


Seien die Stempel uns heilig, die alle Jahrhunderte brauchten,
Sei es die Weise sogar, die sie bedächtig gewählt;
Fand ein Goethe doch Raum in diesen gemessenen Schranken,
Wären sie plötzlich zu eng für die Heroen vdn heut?
Gleichen wir der Natur, die nie das Wunder der Schöpfung
Wiederholt und doch jährlich im Lenz sich erneut:
Alt sind die Formen, es kehren die Lilien wieder und Rosen,
Frisch ist der Dust, und im Kranz thut sich der Meister hervor!





Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunom in Leipzig
Verlag von Fr, Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/200>, abgerufen am 06.01.2025.