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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Der Antisemitismus in Hessen

le antisemitische Bewegung ergreift immer weitre Kreise. Es
geht mit ihr, wie mit der Diphtheritis: sie reicht bald so weit,
als die gebildete Menschheit reicht. Wohin sie kommt, als ein
Neues, Gewaltiges, Unwiderstehliches, da treten ihr alle Parteien
entgegen. Was sich sonst in der Welt bis aufs Blut haßt,
gegen den Antisemitismus geht es mit gleichem Eifer vor. Und doch dabei
das unaufhaltsame Wachsen dieser Bewegung!

Die Sozialdemokraten sehen in ihr die gefährlichste Feindin, da ihr die
Massen zu Gebote stehn; auch spielt der Jude in der Sozialdemokratie schon
längst die erste Violine. Die Ultramontanen, von denen früher so manches
scharfe Wort gegen die Juden fiel, aus deren Reihen der "Talmudjude" (von
Rodung) hervorgegangen ist, und deren Gesinnungsgenossen in Österreich mit
die lautesten Rufer im Streite sind, sie sind bei uns gegen die Juden eitel
Liebe und Güte und können den Antisemitismus uicht hart genug verdammen.

Das kommt von den unnatürlichen Wahlbündnissen seit den letzten Reichs¬
tagswahlen. Man hat da so manchmal "Schulter an Schulter" mit Freisinn
und Sozialdemokraten gegen Regierung, Konservative und Nationalliberale ge¬
fochten und bei den Stichwahlen manchen Sitz gewonnen oder an die Bundes¬
brüder abgegeben, daß die Freundschaft auch in der Friedenszeit zusammen¬
hält. "Weihrauch, Knoblauch und Petroleum haben uns geschlagen," so tele-
gravhirte das Komitee der nationallibernlen Partei im Wahlkreise Friedberg i. H.
nach einer Wahlniederlage an den Fürsten Bismnrck. Das ist der Dreibund,
der unsre politische Lage so elend macht.

Daß der Freisinn den Juden liebt, und daß ihm der Name Jude schon
lange heilig ist, ist ganz begreiflich. Er besteht zum großen Teil ans Juden;


Grenzboten III 1892 19


Der Antisemitismus in Hessen

le antisemitische Bewegung ergreift immer weitre Kreise. Es
geht mit ihr, wie mit der Diphtheritis: sie reicht bald so weit,
als die gebildete Menschheit reicht. Wohin sie kommt, als ein
Neues, Gewaltiges, Unwiderstehliches, da treten ihr alle Parteien
entgegen. Was sich sonst in der Welt bis aufs Blut haßt,
gegen den Antisemitismus geht es mit gleichem Eifer vor. Und doch dabei
das unaufhaltsame Wachsen dieser Bewegung!

Die Sozialdemokraten sehen in ihr die gefährlichste Feindin, da ihr die
Massen zu Gebote stehn; auch spielt der Jude in der Sozialdemokratie schon
längst die erste Violine. Die Ultramontanen, von denen früher so manches
scharfe Wort gegen die Juden fiel, aus deren Reihen der „Talmudjude" (von
Rodung) hervorgegangen ist, und deren Gesinnungsgenossen in Österreich mit
die lautesten Rufer im Streite sind, sie sind bei uns gegen die Juden eitel
Liebe und Güte und können den Antisemitismus uicht hart genug verdammen.

Das kommt von den unnatürlichen Wahlbündnissen seit den letzten Reichs¬
tagswahlen. Man hat da so manchmal „Schulter an Schulter" mit Freisinn
und Sozialdemokraten gegen Regierung, Konservative und Nationalliberale ge¬
fochten und bei den Stichwahlen manchen Sitz gewonnen oder an die Bundes¬
brüder abgegeben, daß die Freundschaft auch in der Friedenszeit zusammen¬
hält. „Weihrauch, Knoblauch und Petroleum haben uns geschlagen," so tele-
gravhirte das Komitee der nationallibernlen Partei im Wahlkreise Friedberg i. H.
nach einer Wahlniederlage an den Fürsten Bismnrck. Das ist der Dreibund,
der unsre politische Lage so elend macht.

Daß der Freisinn den Juden liebt, und daß ihm der Name Jude schon
lange heilig ist, ist ganz begreiflich. Er besteht zum großen Teil ans Juden;


Grenzboten III 1892 19
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[0153] [Abbildung] Der Antisemitismus in Hessen le antisemitische Bewegung ergreift immer weitre Kreise. Es geht mit ihr, wie mit der Diphtheritis: sie reicht bald so weit, als die gebildete Menschheit reicht. Wohin sie kommt, als ein Neues, Gewaltiges, Unwiderstehliches, da treten ihr alle Parteien entgegen. Was sich sonst in der Welt bis aufs Blut haßt, gegen den Antisemitismus geht es mit gleichem Eifer vor. Und doch dabei das unaufhaltsame Wachsen dieser Bewegung! Die Sozialdemokraten sehen in ihr die gefährlichste Feindin, da ihr die Massen zu Gebote stehn; auch spielt der Jude in der Sozialdemokratie schon längst die erste Violine. Die Ultramontanen, von denen früher so manches scharfe Wort gegen die Juden fiel, aus deren Reihen der „Talmudjude" (von Rodung) hervorgegangen ist, und deren Gesinnungsgenossen in Österreich mit die lautesten Rufer im Streite sind, sie sind bei uns gegen die Juden eitel Liebe und Güte und können den Antisemitismus uicht hart genug verdammen. Das kommt von den unnatürlichen Wahlbündnissen seit den letzten Reichs¬ tagswahlen. Man hat da so manchmal „Schulter an Schulter" mit Freisinn und Sozialdemokraten gegen Regierung, Konservative und Nationalliberale ge¬ fochten und bei den Stichwahlen manchen Sitz gewonnen oder an die Bundes¬ brüder abgegeben, daß die Freundschaft auch in der Friedenszeit zusammen¬ hält. „Weihrauch, Knoblauch und Petroleum haben uns geschlagen," so tele- gravhirte das Komitee der nationallibernlen Partei im Wahlkreise Friedberg i. H. nach einer Wahlniederlage an den Fürsten Bismnrck. Das ist der Dreibund, der unsre politische Lage so elend macht. Daß der Freisinn den Juden liebt, und daß ihm der Name Jude schon lange heilig ist, ist ganz begreiflich. Er besteht zum großen Teil ans Juden; Grenzboten III 1892 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/153>, abgerufen am 05.01.2025.