Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Der Antisemitismus in Hessen seine Preß- und Wahlfonds spendet der Jude. Der Jude treibt ihm in Stadt Daß sich aber die Regierungen, die Nationalliberalen und ein Teil der Wir halten es nicht sür klug, dem Freisinn die Kastanien aus dem Feuer Der auf dem Gebiete der unfreiwilligen Komik so fruchtbare Bürger¬ Seid nur lustig, seid nur fröhlich, Der Antisemitismus in Hessen seine Preß- und Wahlfonds spendet der Jude. Der Jude treibt ihm in Stadt Daß sich aber die Regierungen, die Nationalliberalen und ein Teil der Wir halten es nicht sür klug, dem Freisinn die Kastanien aus dem Feuer Der auf dem Gebiete der unfreiwilligen Komik so fruchtbare Bürger¬ Seid nur lustig, seid nur fröhlich, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0154" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212630"/> <fw type="header" place="top"> Der Antisemitismus in Hessen</fw><lb/> <p xml:id="ID_470" prev="#ID_469"> seine Preß- und Wahlfonds spendet der Jude. Der Jude treibt ihm in Stadt<lb/> und Land die meisten Stimmen zu, da ist es ein Gebot der Notwendigkeit<lb/> und der Dankbarkeit zugleich, mit aller Treue und Aufopferung, die einem<lb/> Hörigen zusteht, den Antisemitismus als das schlimmste Gist des Jahrhunderts<lb/> zu bekämpfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_471"> Daß sich aber die Regierungen, die Nationalliberalen und ein Teil der<lb/> Konservativen mit solcher Geflissentlichkeit gegen den Antisemitismus erklären,<lb/> daß sie gegen die Ursachen, die die Bewegung immer wieder hervorrufen,<lb/> blind zu sein scheinen und alsbald bei der Hand sind, den Antisemitismus<lb/> als die „größte Schmach des Jahrhunderts" zu bezeichnen, halten wir weder<lb/> für recht noch für klug. „Die größte Schmach des Jahrhunderts" — wie<lb/> oft ist dieses Wort schon gegen den Antisemitismus gebraucht worden! Und<lb/> doch, ja vielleicht gerade darum entwickelt er sich mit elementarer Lebenskraft<lb/> weiter. Diese vernichtenden Verdammungsurteile schaden der naturgewaltigen<lb/> Bewegung so wenig, als einst den draoi die Verfügungen der spanischen Re¬<lb/> gierung im Herzogtum Mailand, von deren Wortlaut und Erfolglosigkeit<lb/> Alessandro Manzoni in seinen ?rc>in<ZLsi sxoÄ so ergötzlich zu erzählen weiß.</p><lb/> <p xml:id="ID_472"> Wir halten es nicht sür klug, dem Freisinn die Kastanien aus dem Feuer<lb/> zu holen; wir halten es nicht für recht, die Bewegung in dieser Art zu ver¬<lb/> urteilen. Es ist treues konservatives Bauernvolk, wenigstens in Hessen, dessen<lb/> Notschrei in dieser Bewegung der Welt zu Gehör gekommen ist, wenn auch<lb/> der Gang der Bewegung manches Trübe und Widerwärtige im Gefolge ge¬<lb/> habt hat. In andern Gegenden mag es anders sein. Wir wollen hier nur<lb/> von dem hessischen Antisemitismus und besonders von dem Antisemitismus in<lb/> dem nördlich vom Main gelegnen Oberhessen reden.</p><lb/> <p xml:id="ID_473" next="#ID_474"> Der auf dem Gebiete der unfreiwilligen Komik so fruchtbare Bürger¬<lb/> meister Ramspeck von Alsfeld begann einmal seinen Bericht an das Kreisamt<lb/> mit den schönen Worten: „Das Großherzogtum Hessen ist ein vierseitiges<lb/> Oblongum, das mit allen seinen Seiten an das Ausland grenzt." Der Mann<lb/> hat ahnungslos einen Umstand ans Licht gestellt, der die Ausbildung eines<lb/> spezifisch hessischen Vaterlandsgefühls sehr erschwert hat: das Ländchen hat<lb/> zu viele Grenzen. Die drei „Provinzen" werden von drei ganz verschiednen<lb/> Stämmen bewohnt; in dem Gebiete Hessens lag einst eine ganze Musterkarte<lb/> kleiner und kleinster Ländchen. Auch die Religion eint nicht, sondern trennt<lb/> die Bevölkerung; die Lebens- und Wirtschaftsverhültnissc sind die denkbar ver¬<lb/> schiedensten. Nichts hat diese willkürlich zusammengeschweißte Ländcrvereinigung<lb/> zu einem Staate verbunden, als die gemeinsame Dynastie und Negierung und die<lb/> gemeinsame Geschichte seit 1815. Trotzdem ist das Vaterlandsgefühl der<lb/> Hessen heute in den drei Provinzen wohl gefestigt. Wenn die Rekruten singen:</p><lb/> <quote> Seid nur lustig, seid nur fröhlich,<lb/> Hesse-Darmstädter sein mir,</quote><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0154]
Der Antisemitismus in Hessen
seine Preß- und Wahlfonds spendet der Jude. Der Jude treibt ihm in Stadt
und Land die meisten Stimmen zu, da ist es ein Gebot der Notwendigkeit
und der Dankbarkeit zugleich, mit aller Treue und Aufopferung, die einem
Hörigen zusteht, den Antisemitismus als das schlimmste Gist des Jahrhunderts
zu bekämpfen.
Daß sich aber die Regierungen, die Nationalliberalen und ein Teil der
Konservativen mit solcher Geflissentlichkeit gegen den Antisemitismus erklären,
daß sie gegen die Ursachen, die die Bewegung immer wieder hervorrufen,
blind zu sein scheinen und alsbald bei der Hand sind, den Antisemitismus
als die „größte Schmach des Jahrhunderts" zu bezeichnen, halten wir weder
für recht noch für klug. „Die größte Schmach des Jahrhunderts" — wie
oft ist dieses Wort schon gegen den Antisemitismus gebraucht worden! Und
doch, ja vielleicht gerade darum entwickelt er sich mit elementarer Lebenskraft
weiter. Diese vernichtenden Verdammungsurteile schaden der naturgewaltigen
Bewegung so wenig, als einst den draoi die Verfügungen der spanischen Re¬
gierung im Herzogtum Mailand, von deren Wortlaut und Erfolglosigkeit
Alessandro Manzoni in seinen ?rc>in<ZLsi sxoÄ so ergötzlich zu erzählen weiß.
Wir halten es nicht sür klug, dem Freisinn die Kastanien aus dem Feuer
zu holen; wir halten es nicht für recht, die Bewegung in dieser Art zu ver¬
urteilen. Es ist treues konservatives Bauernvolk, wenigstens in Hessen, dessen
Notschrei in dieser Bewegung der Welt zu Gehör gekommen ist, wenn auch
der Gang der Bewegung manches Trübe und Widerwärtige im Gefolge ge¬
habt hat. In andern Gegenden mag es anders sein. Wir wollen hier nur
von dem hessischen Antisemitismus und besonders von dem Antisemitismus in
dem nördlich vom Main gelegnen Oberhessen reden.
Der auf dem Gebiete der unfreiwilligen Komik so fruchtbare Bürger¬
meister Ramspeck von Alsfeld begann einmal seinen Bericht an das Kreisamt
mit den schönen Worten: „Das Großherzogtum Hessen ist ein vierseitiges
Oblongum, das mit allen seinen Seiten an das Ausland grenzt." Der Mann
hat ahnungslos einen Umstand ans Licht gestellt, der die Ausbildung eines
spezifisch hessischen Vaterlandsgefühls sehr erschwert hat: das Ländchen hat
zu viele Grenzen. Die drei „Provinzen" werden von drei ganz verschiednen
Stämmen bewohnt; in dem Gebiete Hessens lag einst eine ganze Musterkarte
kleiner und kleinster Ländchen. Auch die Religion eint nicht, sondern trennt
die Bevölkerung; die Lebens- und Wirtschaftsverhültnissc sind die denkbar ver¬
schiedensten. Nichts hat diese willkürlich zusammengeschweißte Ländcrvereinigung
zu einem Staate verbunden, als die gemeinsame Dynastie und Negierung und die
gemeinsame Geschichte seit 1815. Trotzdem ist das Vaterlandsgefühl der
Hessen heute in den drei Provinzen wohl gefestigt. Wenn die Rekruten singen:
Seid nur lustig, seid nur fröhlich,
Hesse-Darmstädter sein mir,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |