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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Aus dänischer Zeit
5. Großvaters Schreiber

roßvaters Schreiber wußte alle Neuigkeiten der Stadt und der
Umgegend, und kein Mensch verstand so wie er, aus kleine",
harmlosen Begebenheiten eine große, wichtige Geschichte zu machen.
Auch gab es wohl niemand in der kleinen Stadt, dessen äußere
Erscheinung so allgemein bekannt gewesen wäre, wie die von Gro߬
vaters Schreiber. "Herr Seckertnr" nannten ihn die Leute, und
Nasmus Rasmussen ließ sich diese Bezeichnung mit wohlwollender Herablassung
gefallen, ebenso wie die kleinen Schnäpse, die er sich als Tribut seiner hervor¬
ragenden Stellung hin und wieder einschenken ließ. Wer Nasmus reden hörte,
mußte glauben, daß das Wohl und Wehe des ganzen Bezirkes von ihm ab-
hinge, daß alle Beamten, vom Amtmann abwärts, eigentlich nur ihm zu ge¬
horchen Hütten, ja daß er mit dem König selbst auf vertrauten? Fuße stünde.
Besonders regten ihn die gebrannten Wasser auf die angenehmste Weise an,
und wenn er nach einem Rundgang in den verschiednen kleinen Wirtschaften
der Stadt wieder zum Schreibepult zurückkehrte, so floß sein Mund über von
deu interessantesten Geschichten.

Wenn wir ihn in diesen Augenblicken der Verzückung besuchten, so hatte
Nasmus für uns eine große Anziehungskraft. Er saß gewöhnlich an seinem
Pult und schnitt Gänsefedern, probirte auch wohl eine oder die andre,
während er seiner beredten Phantasie den freiesten Lauf ließ. Wir hockten
mif Schemeln und Tischecken der alten räucherigen und staubigen Schreibstube
und regten unsern Freund zu immer weitern Mitteilungen an. Durch jahre¬
lange Bekanntschaft wußten wir ziemlich genau, was er uns erzählen würde,
und mein Bruder Jürgen hatte Rasmus Geschichten förmlich in Klassen ge¬
bracht, die sich nach der Anzahl seiner Schnäpse richteten. Hatte er z. B.
an Morgen nur zwei oder drei "Ltttjenburger" genommen, dann berichtete
er uns aus seiner weit hinter ihm liegenden Kindheit. Wie er sich immer
so artig und brav betragen, wie er niemals "nachgesessen" hätte, wie er fast
nie bestraft worden und stets ein Musterknabe gewesen sei. Obgleich sein
rührendes Selbstlob mit vielen schönen Beispielen belegt wurde, so mochten
wir diese Geschichten doch am wenigsten hören. Uns war es lieber, wenn
Nasmus einige Schnäpse mehr getrunken hatte, weil er uns dann von den
Irrfahrten seiner Jugend- und Mannesjahre berichtete. Er hatte nach unsrer
Ansicht die halbe Welt gesehen, denn er war in Hamburg Bierbrauer und
in Kopenhagen Kaufmann gewesen, und einmal war er sogar zu Schiff von
Friderieia uach Sonderburg gefahren, eine Reise, bei der Nasmns Meer-
ungeheuer, Walfische, Delphine, jn sogar ein Meerweib erblickt hatte, sodaß


Grenzboten 11t, 18"! 72


Aus dänischer Zeit
5. Großvaters Schreiber

roßvaters Schreiber wußte alle Neuigkeiten der Stadt und der
Umgegend, und kein Mensch verstand so wie er, aus kleine»,
harmlosen Begebenheiten eine große, wichtige Geschichte zu machen.
Auch gab es wohl niemand in der kleinen Stadt, dessen äußere
Erscheinung so allgemein bekannt gewesen wäre, wie die von Gro߬
vaters Schreiber. „Herr Seckertnr" nannten ihn die Leute, und
Nasmus Rasmussen ließ sich diese Bezeichnung mit wohlwollender Herablassung
gefallen, ebenso wie die kleinen Schnäpse, die er sich als Tribut seiner hervor¬
ragenden Stellung hin und wieder einschenken ließ. Wer Nasmus reden hörte,
mußte glauben, daß das Wohl und Wehe des ganzen Bezirkes von ihm ab-
hinge, daß alle Beamten, vom Amtmann abwärts, eigentlich nur ihm zu ge¬
horchen Hütten, ja daß er mit dem König selbst auf vertrauten? Fuße stünde.
Besonders regten ihn die gebrannten Wasser auf die angenehmste Weise an,
und wenn er nach einem Rundgang in den verschiednen kleinen Wirtschaften
der Stadt wieder zum Schreibepult zurückkehrte, so floß sein Mund über von
deu interessantesten Geschichten.

Wenn wir ihn in diesen Augenblicken der Verzückung besuchten, so hatte
Nasmus für uns eine große Anziehungskraft. Er saß gewöhnlich an seinem
Pult und schnitt Gänsefedern, probirte auch wohl eine oder die andre,
während er seiner beredten Phantasie den freiesten Lauf ließ. Wir hockten
mif Schemeln und Tischecken der alten räucherigen und staubigen Schreibstube
und regten unsern Freund zu immer weitern Mitteilungen an. Durch jahre¬
lange Bekanntschaft wußten wir ziemlich genau, was er uns erzählen würde,
und mein Bruder Jürgen hatte Rasmus Geschichten förmlich in Klassen ge¬
bracht, die sich nach der Anzahl seiner Schnäpse richteten. Hatte er z. B.
an Morgen nur zwei oder drei „Ltttjenburger" genommen, dann berichtete
er uns aus seiner weit hinter ihm liegenden Kindheit. Wie er sich immer
so artig und brav betragen, wie er niemals „nachgesessen" hätte, wie er fast
nie bestraft worden und stets ein Musterknabe gewesen sei. Obgleich sein
rührendes Selbstlob mit vielen schönen Beispielen belegt wurde, so mochten
wir diese Geschichten doch am wenigsten hören. Uns war es lieber, wenn
Nasmus einige Schnäpse mehr getrunken hatte, weil er uns dann von den
Irrfahrten seiner Jugend- und Mannesjahre berichtete. Er hatte nach unsrer
Ansicht die halbe Welt gesehen, denn er war in Hamburg Bierbrauer und
in Kopenhagen Kaufmann gewesen, und einmal war er sogar zu Schiff von
Friderieia uach Sonderburg gefahren, eine Reise, bei der Nasmns Meer-
ungeheuer, Walfische, Delphine, jn sogar ein Meerweib erblickt hatte, sodaß


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[0577] [Abbildung] Aus dänischer Zeit 5. Großvaters Schreiber roßvaters Schreiber wußte alle Neuigkeiten der Stadt und der Umgegend, und kein Mensch verstand so wie er, aus kleine», harmlosen Begebenheiten eine große, wichtige Geschichte zu machen. Auch gab es wohl niemand in der kleinen Stadt, dessen äußere Erscheinung so allgemein bekannt gewesen wäre, wie die von Gro߬ vaters Schreiber. „Herr Seckertnr" nannten ihn die Leute, und Nasmus Rasmussen ließ sich diese Bezeichnung mit wohlwollender Herablassung gefallen, ebenso wie die kleinen Schnäpse, die er sich als Tribut seiner hervor¬ ragenden Stellung hin und wieder einschenken ließ. Wer Nasmus reden hörte, mußte glauben, daß das Wohl und Wehe des ganzen Bezirkes von ihm ab- hinge, daß alle Beamten, vom Amtmann abwärts, eigentlich nur ihm zu ge¬ horchen Hütten, ja daß er mit dem König selbst auf vertrauten? Fuße stünde. Besonders regten ihn die gebrannten Wasser auf die angenehmste Weise an, und wenn er nach einem Rundgang in den verschiednen kleinen Wirtschaften der Stadt wieder zum Schreibepult zurückkehrte, so floß sein Mund über von deu interessantesten Geschichten. Wenn wir ihn in diesen Augenblicken der Verzückung besuchten, so hatte Nasmus für uns eine große Anziehungskraft. Er saß gewöhnlich an seinem Pult und schnitt Gänsefedern, probirte auch wohl eine oder die andre, während er seiner beredten Phantasie den freiesten Lauf ließ. Wir hockten mif Schemeln und Tischecken der alten räucherigen und staubigen Schreibstube und regten unsern Freund zu immer weitern Mitteilungen an. Durch jahre¬ lange Bekanntschaft wußten wir ziemlich genau, was er uns erzählen würde, und mein Bruder Jürgen hatte Rasmus Geschichten förmlich in Klassen ge¬ bracht, die sich nach der Anzahl seiner Schnäpse richteten. Hatte er z. B. an Morgen nur zwei oder drei „Ltttjenburger" genommen, dann berichtete er uns aus seiner weit hinter ihm liegenden Kindheit. Wie er sich immer so artig und brav betragen, wie er niemals „nachgesessen" hätte, wie er fast nie bestraft worden und stets ein Musterknabe gewesen sei. Obgleich sein rührendes Selbstlob mit vielen schönen Beispielen belegt wurde, so mochten wir diese Geschichten doch am wenigsten hören. Uns war es lieber, wenn Nasmus einige Schnäpse mehr getrunken hatte, weil er uns dann von den Irrfahrten seiner Jugend- und Mannesjahre berichtete. Er hatte nach unsrer Ansicht die halbe Welt gesehen, denn er war in Hamburg Bierbrauer und in Kopenhagen Kaufmann gewesen, und einmal war er sogar zu Schiff von Friderieia uach Sonderburg gefahren, eine Reise, bei der Nasmns Meer- ungeheuer, Walfische, Delphine, jn sogar ein Meerweib erblickt hatte, sodaß Grenzboten 11t, 18»! 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/577>, abgerufen am 23.07.2024.