Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.Geschichtsphilosophische Gedanken ^. Die Reformation und die Freiheit lSchluß) MM Geschichtsphilosophische Gedanken ^. Die Reformation und die Freiheit lSchluß) MM <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0503" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290272"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Geschichtsphilosophische Gedanken<lb/> ^. Die Reformation und die Freiheit lSchluß) </head><lb/> <p xml:id="ID_1474" next="#ID_1475"> MM<lb/> ^MMcum es sich um den Einfluß der Reformation auf die politische<lb/> Befreiung der Völker handelt, so Pflegt man allerdings nicht<lb/> ans Luthertum, sondern an die Konfession der Reformirten und<lb/> hauptsächlich an den Calvinismus zu denken. Sonderbar, Luther,<lb/> dessen ganzes Wesen heitere Freiheit atmet, soll die politische<lb/> Knechtschaft, und der finstere, despotische Calvin soll die politische Freiheit<lb/> gebracht haben! Des Rätsels Lösung liegt darin, daß in beiden Fällen die<lb/> Wirkung weniger aus der Glaubenslehre als aus den Verhältnissen der Länder<lb/> und Völker hervorging, in denen sie zur Herrschaft gelangte. Können wir<lb/> demnach auch dem Calvinismus einen Ruhm nicht ungeschmälert zugestehen,<lb/> den seine Verehrer für ihn beanspruchen, so sind wir doch keineswegs gewillt,<lb/> seine wirklichen Verdienste zu verkleinern. Namentlich leugnen wir nicht seine<lb/> großen Verdienste um Wiederherstellung einer bessern Sittenzncht und den<lb/> vortrefflichen reinen, klaren und starkmütigcn Geist, der in einzelnen calvinischen<lb/> Familien und in ganzen Gemeinden bis auf den heutigen Tag waltet. Ja<lb/> nachdem sich die ursprüngliche Härte zum sittliche:? Ernst gemildert hat, nach¬<lb/> dem auch die Calvinisten aus dein engen Zirkel ihres Dogmas und ihres<lb/> alttestamentlichen Vorstellungskreises heraus und unbefangen mit allen Rich¬<lb/> tungen der Zeit in Verbindung getreten sind, nachdem sie notgedrungen ge¬<lb/> lernt haben, sich mit Andersgläubigen zu vertragen, finden wir unter ihnen<lb/> selbst so liebenswürdige Erscheinungen, wie den Grafen Agsnvr de Gasparin<lb/> und sein Buch über die Gleichheit (I/I^Alto, Paris, Michel Leps, 1869).<lb/> Als seinen echten Jünger würde Calvin diesen demokratischen Grafen kaum<lb/> anerkennen, denn nicht auf den unerbittlichen ewigen Ratschluß Gottes, sondern<lb/> auf den freien Willen des Menschen sührt Gasparin die furchtbarste und un¬<lb/> überwindlichste Ungleichheit, die der Guten und Bösen zurück. Doch ist diese<lb/> Abklärung in einzelnen idealen Gestalten nicht dein Calvinismus allein eigen.<lb/> Wer würde nicht Lutheraner wie den edeln Spener und den Grafen Zinzen-<lb/> dorf lieben, oder wie mau sie in den norddeutschen Pastorenfamilien und in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0503]
Geschichtsphilosophische Gedanken
^. Die Reformation und die Freiheit lSchluß)
MM
^MMcum es sich um den Einfluß der Reformation auf die politische
Befreiung der Völker handelt, so Pflegt man allerdings nicht
ans Luthertum, sondern an die Konfession der Reformirten und
hauptsächlich an den Calvinismus zu denken. Sonderbar, Luther,
dessen ganzes Wesen heitere Freiheit atmet, soll die politische
Knechtschaft, und der finstere, despotische Calvin soll die politische Freiheit
gebracht haben! Des Rätsels Lösung liegt darin, daß in beiden Fällen die
Wirkung weniger aus der Glaubenslehre als aus den Verhältnissen der Länder
und Völker hervorging, in denen sie zur Herrschaft gelangte. Können wir
demnach auch dem Calvinismus einen Ruhm nicht ungeschmälert zugestehen,
den seine Verehrer für ihn beanspruchen, so sind wir doch keineswegs gewillt,
seine wirklichen Verdienste zu verkleinern. Namentlich leugnen wir nicht seine
großen Verdienste um Wiederherstellung einer bessern Sittenzncht und den
vortrefflichen reinen, klaren und starkmütigcn Geist, der in einzelnen calvinischen
Familien und in ganzen Gemeinden bis auf den heutigen Tag waltet. Ja
nachdem sich die ursprüngliche Härte zum sittliche:? Ernst gemildert hat, nach¬
dem auch die Calvinisten aus dein engen Zirkel ihres Dogmas und ihres
alttestamentlichen Vorstellungskreises heraus und unbefangen mit allen Rich¬
tungen der Zeit in Verbindung getreten sind, nachdem sie notgedrungen ge¬
lernt haben, sich mit Andersgläubigen zu vertragen, finden wir unter ihnen
selbst so liebenswürdige Erscheinungen, wie den Grafen Agsnvr de Gasparin
und sein Buch über die Gleichheit (I/I^Alto, Paris, Michel Leps, 1869).
Als seinen echten Jünger würde Calvin diesen demokratischen Grafen kaum
anerkennen, denn nicht auf den unerbittlichen ewigen Ratschluß Gottes, sondern
auf den freien Willen des Menschen sührt Gasparin die furchtbarste und un¬
überwindlichste Ungleichheit, die der Guten und Bösen zurück. Doch ist diese
Abklärung in einzelnen idealen Gestalten nicht dein Calvinismus allein eigen.
Wer würde nicht Lutheraner wie den edeln Spener und den Grafen Zinzen-
dorf lieben, oder wie mau sie in den norddeutschen Pastorenfamilien und in
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