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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Erziehung des deutschen Studenten
von August Niemann

er die deutsche Universität, wer das Wesen des deutsche" Studenten,
sein Leben und Treiben recht verstehen will, der muß zunächst
griechisch denken, muß sich ans den Standpunkt stellen können,
von wo ans der Begriff der Tugend, "^s^, verständlich wird,
wie ihn die alten unsterblichen Lehrmeister Europas aufgefaßt
nud damit die der Menschenbrust innewohnende Sehnsucht nach dein Schönen
und Guten in einleuchtender Form dargestellt haben. Denn wer mit dem
Auge des Amerikaners, als man "f buÄuv"", die deutschen Universitätsstädte
durchwandert und die Schnarren, schmisse und Narben in den Gesichtern
junger, der Wissenschaft ergebner Leute, sowie ihr oft ersiannliches Trinken
braunen Gerstensaftes beobachtet, der möchte wohl verwundert und befremdet
fragen: Ist das der Weg der Vorbereitung für Jünglinge der obern Stände,
die es in ihrem Berufe zu etwas bringen wollen?

Aber die Erziehung ging nach griechischer Idee nicht sowohl darauf aus,
daß die Jünglinge es zu etwas bringen, als vielmehr darauf, daß sie etwas
werden sollten. Jene alten Lehrer waren davon überzeugt, daß, wer etwas
wäre, nämlich tugendhaft, es auch schon zu etwas bringen würde, nämlich zu
einem guten Staatsbürger. Die Tugend aber erschien ihnen als Weisheit,
Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, und zwar uicht so, als
wären diese Eigenschaften etwas verschiednes, die zusammen das Ganze der
Tugend ausmachten, wie etwa die verschiednen Teile des Gesichts auch ein
Ganzes ausmachen, sondern nur als verschiedne Namen für einunddasselbe,
für die Beschaffenheit eines Menschen, der eine gesunde Seele in einem ge¬
sunden Leibe trägt und dies am deutlichsten in der Tapferkeit zeigt.

Platon stimmt den Worten des Dichters zu: "Nur der Tugendhafte ver¬
mag gelassen bluttriefenden Mord zu erblicken und aus der Nähe zielend den
Feind ius Auge zu fasse""; er schreibt auch im Eingänge seines Werkes vom
Staate, die Auswahl der Bürger für wichtige Staatsämter geschehe in vor¬
trefflicher Weise bei Trinkgelagen, wo nüchterne Richter den Vorsitz führten.
In der Trunkenheit nämlich zeige sich der Charakter des Mannes unverhüllt,
und wer auch trunken noch achtungswert bleibe, der erst sei für einen ganz




Die Erziehung des deutschen Studenten
von August Niemann

er die deutsche Universität, wer das Wesen des deutsche» Studenten,
sein Leben und Treiben recht verstehen will, der muß zunächst
griechisch denken, muß sich ans den Standpunkt stellen können,
von wo ans der Begriff der Tugend, «^s^, verständlich wird,
wie ihn die alten unsterblichen Lehrmeister Europas aufgefaßt
nud damit die der Menschenbrust innewohnende Sehnsucht nach dein Schönen
und Guten in einleuchtender Form dargestellt haben. Denn wer mit dem
Auge des Amerikaners, als man «f buÄuv«», die deutschen Universitätsstädte
durchwandert und die Schnarren, schmisse und Narben in den Gesichtern
junger, der Wissenschaft ergebner Leute, sowie ihr oft ersiannliches Trinken
braunen Gerstensaftes beobachtet, der möchte wohl verwundert und befremdet
fragen: Ist das der Weg der Vorbereitung für Jünglinge der obern Stände,
die es in ihrem Berufe zu etwas bringen wollen?

Aber die Erziehung ging nach griechischer Idee nicht sowohl darauf aus,
daß die Jünglinge es zu etwas bringen, als vielmehr darauf, daß sie etwas
werden sollten. Jene alten Lehrer waren davon überzeugt, daß, wer etwas
wäre, nämlich tugendhaft, es auch schon zu etwas bringen würde, nämlich zu
einem guten Staatsbürger. Die Tugend aber erschien ihnen als Weisheit,
Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, und zwar uicht so, als
wären diese Eigenschaften etwas verschiednes, die zusammen das Ganze der
Tugend ausmachten, wie etwa die verschiednen Teile des Gesichts auch ein
Ganzes ausmachen, sondern nur als verschiedne Namen für einunddasselbe,
für die Beschaffenheit eines Menschen, der eine gesunde Seele in einem ge¬
sunden Leibe trägt und dies am deutlichsten in der Tapferkeit zeigt.

Platon stimmt den Worten des Dichters zu: „Nur der Tugendhafte ver¬
mag gelassen bluttriefenden Mord zu erblicken und aus der Nähe zielend den
Feind ius Auge zu fasse»"; er schreibt auch im Eingänge seines Werkes vom
Staate, die Auswahl der Bürger für wichtige Staatsämter geschehe in vor¬
trefflicher Weise bei Trinkgelagen, wo nüchterne Richter den Vorsitz führten.
In der Trunkenheit nämlich zeige sich der Charakter des Mannes unverhüllt,
und wer auch trunken noch achtungswert bleibe, der erst sei für einen ganz


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[0023] [Abbildung] Die Erziehung des deutschen Studenten von August Niemann er die deutsche Universität, wer das Wesen des deutsche» Studenten, sein Leben und Treiben recht verstehen will, der muß zunächst griechisch denken, muß sich ans den Standpunkt stellen können, von wo ans der Begriff der Tugend, «^s^, verständlich wird, wie ihn die alten unsterblichen Lehrmeister Europas aufgefaßt nud damit die der Menschenbrust innewohnende Sehnsucht nach dein Schönen und Guten in einleuchtender Form dargestellt haben. Denn wer mit dem Auge des Amerikaners, als man «f buÄuv«», die deutschen Universitätsstädte durchwandert und die Schnarren, schmisse und Narben in den Gesichtern junger, der Wissenschaft ergebner Leute, sowie ihr oft ersiannliches Trinken braunen Gerstensaftes beobachtet, der möchte wohl verwundert und befremdet fragen: Ist das der Weg der Vorbereitung für Jünglinge der obern Stände, die es in ihrem Berufe zu etwas bringen wollen? Aber die Erziehung ging nach griechischer Idee nicht sowohl darauf aus, daß die Jünglinge es zu etwas bringen, als vielmehr darauf, daß sie etwas werden sollten. Jene alten Lehrer waren davon überzeugt, daß, wer etwas wäre, nämlich tugendhaft, es auch schon zu etwas bringen würde, nämlich zu einem guten Staatsbürger. Die Tugend aber erschien ihnen als Weisheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, und zwar uicht so, als wären diese Eigenschaften etwas verschiednes, die zusammen das Ganze der Tugend ausmachten, wie etwa die verschiednen Teile des Gesichts auch ein Ganzes ausmachen, sondern nur als verschiedne Namen für einunddasselbe, für die Beschaffenheit eines Menschen, der eine gesunde Seele in einem ge¬ sunden Leibe trägt und dies am deutlichsten in der Tapferkeit zeigt. Platon stimmt den Worten des Dichters zu: „Nur der Tugendhafte ver¬ mag gelassen bluttriefenden Mord zu erblicken und aus der Nähe zielend den Feind ius Auge zu fasse»"; er schreibt auch im Eingänge seines Werkes vom Staate, die Auswahl der Bürger für wichtige Staatsämter geschehe in vor¬ trefflicher Weise bei Trinkgelagen, wo nüchterne Richter den Vorsitz führten. In der Trunkenheit nämlich zeige sich der Charakter des Mannes unverhüllt, und wer auch trunken noch achtungswert bleibe, der erst sei für einen ganz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/23>, abgerufen am 13.11.2024.