Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.Geschichtsphilosophische Gedanken Staate der zweite der genannten Fülle eintreten würde, denn dieser wäre (Schluß folgt) Geschichtsphilosophische Gedanken 10 cum wir Heutigen uns nach realen Grundlagen für eine Staaten- Geschichtsphilosophische Gedanken Staate der zweite der genannten Fülle eintreten würde, denn dieser wäre (Schluß folgt) Geschichtsphilosophische Gedanken 10 cum wir Heutigen uns nach realen Grundlagen für eine Staaten- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289979"/> <fw type="header" place="top"> Geschichtsphilosophische Gedanken</fw><lb/> <p xml:id="ID_575" prev="#ID_574"> Staate der zweite der genannten Fülle eintreten würde, denn dieser wäre<lb/> gleichbedeutend mit einer Selbstvernichtung: ein Staat, der alle Selbständig¬<lb/> keit des Denkens und Handelns vernichten wollte, würde schließlich sich selbst<lb/> als Staat unmöglich machen. Es würde also wahrscheinlich der erste oder<lb/> der dritte Fall eintreten; der dritte Fall hat die größere Wahrscheinlichkeit.<lb/> Das Volk als große Masse der Bevölkerung hat nie selbständige Ansichten<lb/> gehabt, sondern hat sich stets der Leitung selbständiger Naturen überlassen,<lb/> derart, daß es ohne eine solche Leitung stets machtlos war. Es wäre mich<lb/> nicht zu erklären, warum sich die große Meuge so oft in der Geschichte die<lb/> Tyrannei eines Einzelnen hätte gefallen lassen, um gewisse Ziele zu erreichen,<lb/> die dieser Einzelne oder andre Einzelne vorgezeichnet hatten, wenn es nicht<lb/> ihr unklares Gefühl gewesen wäre, daß sie ohne eine solche Leitung überhaupt<lb/> nichts erreiche» könnte. Schon jetzt herrscht unter den Sozialdemokraten eine<lb/> stramme Parteidisziplin, die sich in einem sozialdemvkmtischen Staate noch<lb/> steigern müßte, wenn die große Masse etwas zustande bringen sollte. Es<lb/> liegt aber, sagen wir, in der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, daß<lb/> die, die herrschen, sich auf Kosten der Beherrschten gewisse cinßere Vorteile zu<lb/> sichern und die Beherrschten in ihrer Unterthänigkeit zu erhalten streben, und<lb/> damit wäre der Entwicklungsgang des sozialdemokratischen Staates vorgezeichnet.</p><lb/> <p xml:id="ID_576"> (Schluß folgt)</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Geschichtsphilosophische Gedanken<lb/> 10 </head><lb/> <p xml:id="ID_577" next="#ID_578"> cum wir Heutigen uns nach realen Grundlagen für eine Staaten-<lb/> bildung umsehen, so denken wir gewöhnlich zunächst an die<lb/> Nationalität. Den Menschen des frühern Mittelalters lag dieser<lb/> Gedanke fern. Nur sehr langsam ging die Bildung der roma¬<lb/> nischen Nationen und ihre Abgrenzung gegen die rein deutsch<lb/> bleibenden Stämme diesseits der Alpen und Vogesen vor sich. Im Jahre 842<lb/> war es das erstemal, daß sich beim Abschluß eines Vertrages zwischen Ludwig<lb/> dem Deutschen und Karl dem Kahlen Deutsche und Franzosen als anders¬<lb/> sprachige Völker gegenübertraten. Lange noch wurde die langsam sich erhebende<lb/> Scheidewand der Sprache durch das Volapük jener Zeit, das Lateinische, dessen<lb/> sich die Gelehrten und Staatsmänner auch dann noch bedienten, als sie nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0211]
Geschichtsphilosophische Gedanken
Staate der zweite der genannten Fülle eintreten würde, denn dieser wäre
gleichbedeutend mit einer Selbstvernichtung: ein Staat, der alle Selbständig¬
keit des Denkens und Handelns vernichten wollte, würde schließlich sich selbst
als Staat unmöglich machen. Es würde also wahrscheinlich der erste oder
der dritte Fall eintreten; der dritte Fall hat die größere Wahrscheinlichkeit.
Das Volk als große Masse der Bevölkerung hat nie selbständige Ansichten
gehabt, sondern hat sich stets der Leitung selbständiger Naturen überlassen,
derart, daß es ohne eine solche Leitung stets machtlos war. Es wäre mich
nicht zu erklären, warum sich die große Meuge so oft in der Geschichte die
Tyrannei eines Einzelnen hätte gefallen lassen, um gewisse Ziele zu erreichen,
die dieser Einzelne oder andre Einzelne vorgezeichnet hatten, wenn es nicht
ihr unklares Gefühl gewesen wäre, daß sie ohne eine solche Leitung überhaupt
nichts erreiche» könnte. Schon jetzt herrscht unter den Sozialdemokraten eine
stramme Parteidisziplin, die sich in einem sozialdemvkmtischen Staate noch
steigern müßte, wenn die große Masse etwas zustande bringen sollte. Es
liegt aber, sagen wir, in der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, daß
die, die herrschen, sich auf Kosten der Beherrschten gewisse cinßere Vorteile zu
sichern und die Beherrschten in ihrer Unterthänigkeit zu erhalten streben, und
damit wäre der Entwicklungsgang des sozialdemokratischen Staates vorgezeichnet.
(Schluß folgt)
Geschichtsphilosophische Gedanken
10
cum wir Heutigen uns nach realen Grundlagen für eine Staaten-
bildung umsehen, so denken wir gewöhnlich zunächst an die
Nationalität. Den Menschen des frühern Mittelalters lag dieser
Gedanke fern. Nur sehr langsam ging die Bildung der roma¬
nischen Nationen und ihre Abgrenzung gegen die rein deutsch
bleibenden Stämme diesseits der Alpen und Vogesen vor sich. Im Jahre 842
war es das erstemal, daß sich beim Abschluß eines Vertrages zwischen Ludwig
dem Deutschen und Karl dem Kahlen Deutsche und Franzosen als anders¬
sprachige Völker gegenübertraten. Lange noch wurde die langsam sich erhebende
Scheidewand der Sprache durch das Volapük jener Zeit, das Lateinische, dessen
sich die Gelehrten und Staatsmänner auch dann noch bedienten, als sie nicht
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