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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosoxhische Gedanken

mehr Geistliche waren, vielfach durchbrochen. Überhaupt gab es vereinigende
Kräfte genug, die den trennenden das Gleichgewicht hielten. Neben den vielen
hin- und herlaufenden Verwandtschaftsbeziehuugen der Stamme und Fürsten
war es vor allem die alle umschließende Kirche, die alle Völker Europas
daran gewöhnte, sich als Glieder einer Familie zu betrachten. Und alle Ein¬
richtungen und Zustande waren international, wenn dieses Wort auf eine Zeit
angewendet werden darf, wo Nationen im heutigen Sinne noch gar nicht vor¬
handen, waren. Allen Ländern gemeinsam waren die Naturalwirtschaft, der
gebundene Grundbesitz, die Feudalverfassung des Staates, die Zunftverfassung
des Handwerks, die Bildung der Litteraten und das Analphabetentum des
Landvolkes. Alle geistigen, politischen und sozialen Bewegungen verbreiteten
sich mit eiuer sür die Verkehrsverhältnisse jener Zeit wunderbaren Schnellig¬
keit. Der Kampf der Handwerker gegen die Geschlechter tobte im vierzehnten
Jahrhundert gleicherweise in Bologna und Florenz wie in London und Lübeck,
in Paris wie in Wien. Die Hochschulen von Oxford bis Salerno wurden
von Studenten aller Länder besucht. In den Heeren der Kreuzfahrer strömte
die Sahne wie der Abschaum von ganz Europa zusammen. Weder im sozialen
Gebiete noch in dem der Wissenschaft oder der Politik machen sich die werdenden
Nationcilgeister zuerst bemerklich, sondern in dem der Kunst: die Volksdichtungen
waren die ersten nationalen Besitztümer. Es dauerte ziemlich lauge, ehe dieser
Unterschied auch fürs Auge bemerkbar gemacht werden konnte und sich den
Litteraten aufdrängte: hat doch erst Dante den Italienern ihr großes National¬
gedicht gegeben und die "Vulgärsprache," wie er selbst halb verächtlich das
Italienische nannte, zur Schriftsprache erhoben. Noch deutlicher trat später
der nationale Unterschied in den Werken der bildenden Künste hervor. Aber
zu Dantes Zeit fing die italienische Malerei eben erst an, sich in der Person
Giottos aus den Windeln der kirchlichen Schablone zu befreien, die die ältern
italienischen Bilder den altdeutschen so ähnlich macht. Auch das Volksleben
war in Tracht und Sitte noch einfach, daher in Italien von dem deutscheu
nicht sehr verschieden. Der Kleiderluxus in den Städten, gegen den Dante
eifert, begann eben erst zu seiner Zeit. Nur daß in Italien schon damals
das städtische Leben überwog, während in Deutschland die Ritter und die
Bauern noch immer die wichtigsten Bestandteile des Volkes ausmachten, be¬
gründete einen augenfälligen Unterschied.

Es versteht sich, daß die Italiener und die Deutschen bei ihren vielfältigen
Begegnungen einander kritisirten. Die Italiener werden von den Deutschen
im allgemeine,, für falsch, diese von jenen für roh und ungeschlacht erklärt.
Damit hatten ja beide einigermaßen Recht. List ist die Waffe des Schwächern,
und die Italiener standen den Deutschen an Waffentüchtigkeit je länger je
mehr uach, da ihr Leben immer städtischer ward. Und Wortbruch ist die
Waffe des Unterdrückten, umso mehr, als Unterworfene nie und nirgends leicht


Geschichtsphilosoxhische Gedanken

mehr Geistliche waren, vielfach durchbrochen. Überhaupt gab es vereinigende
Kräfte genug, die den trennenden das Gleichgewicht hielten. Neben den vielen
hin- und herlaufenden Verwandtschaftsbeziehuugen der Stamme und Fürsten
war es vor allem die alle umschließende Kirche, die alle Völker Europas
daran gewöhnte, sich als Glieder einer Familie zu betrachten. Und alle Ein¬
richtungen und Zustande waren international, wenn dieses Wort auf eine Zeit
angewendet werden darf, wo Nationen im heutigen Sinne noch gar nicht vor¬
handen, waren. Allen Ländern gemeinsam waren die Naturalwirtschaft, der
gebundene Grundbesitz, die Feudalverfassung des Staates, die Zunftverfassung
des Handwerks, die Bildung der Litteraten und das Analphabetentum des
Landvolkes. Alle geistigen, politischen und sozialen Bewegungen verbreiteten
sich mit eiuer sür die Verkehrsverhältnisse jener Zeit wunderbaren Schnellig¬
keit. Der Kampf der Handwerker gegen die Geschlechter tobte im vierzehnten
Jahrhundert gleicherweise in Bologna und Florenz wie in London und Lübeck,
in Paris wie in Wien. Die Hochschulen von Oxford bis Salerno wurden
von Studenten aller Länder besucht. In den Heeren der Kreuzfahrer strömte
die Sahne wie der Abschaum von ganz Europa zusammen. Weder im sozialen
Gebiete noch in dem der Wissenschaft oder der Politik machen sich die werdenden
Nationcilgeister zuerst bemerklich, sondern in dem der Kunst: die Volksdichtungen
waren die ersten nationalen Besitztümer. Es dauerte ziemlich lauge, ehe dieser
Unterschied auch fürs Auge bemerkbar gemacht werden konnte und sich den
Litteraten aufdrängte: hat doch erst Dante den Italienern ihr großes National¬
gedicht gegeben und die „Vulgärsprache," wie er selbst halb verächtlich das
Italienische nannte, zur Schriftsprache erhoben. Noch deutlicher trat später
der nationale Unterschied in den Werken der bildenden Künste hervor. Aber
zu Dantes Zeit fing die italienische Malerei eben erst an, sich in der Person
Giottos aus den Windeln der kirchlichen Schablone zu befreien, die die ältern
italienischen Bilder den altdeutschen so ähnlich macht. Auch das Volksleben
war in Tracht und Sitte noch einfach, daher in Italien von dem deutscheu
nicht sehr verschieden. Der Kleiderluxus in den Städten, gegen den Dante
eifert, begann eben erst zu seiner Zeit. Nur daß in Italien schon damals
das städtische Leben überwog, während in Deutschland die Ritter und die
Bauern noch immer die wichtigsten Bestandteile des Volkes ausmachten, be¬
gründete einen augenfälligen Unterschied.

Es versteht sich, daß die Italiener und die Deutschen bei ihren vielfältigen
Begegnungen einander kritisirten. Die Italiener werden von den Deutschen
im allgemeine,, für falsch, diese von jenen für roh und ungeschlacht erklärt.
Damit hatten ja beide einigermaßen Recht. List ist die Waffe des Schwächern,
und die Italiener standen den Deutschen an Waffentüchtigkeit je länger je
mehr uach, da ihr Leben immer städtischer ward. Und Wortbruch ist die
Waffe des Unterdrückten, umso mehr, als Unterworfene nie und nirgends leicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/212>, abgerufen am 23.07.2024.