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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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wer hat Recht?

Das sind die Ziele der sozialdemokratischen Partei "innerhalb der heutigen
Gesellschaft." Und wenn auch Herr von Vollmar und mit ihm Wohl mancher
seiner Genossen jetzt sagt: "Über der Zukunft dürfen wir das Nächste nicht
vergessen," so bleibt diese Zukunft doch allein des Erstrebeus wert, und "das
Nächste" ist eben nur "Abschlagszahlung." Ist bei solcher Anschauung nun
irgend welche Unterhandlung mit der sozialdemokratischen Partei noch möglich?
Wir sagen nein!

Die "proletarisch-wissenschaftliche" Anschauung beruht im letzten Grnnde
darauf, daß ihr die materiellen Güter allein gelten. Dieser plumpe Gedanke,
mit voller Folgerichtigkeit zum System ausgeführt, ist es, der die Massen
ergreift; in der kärglichen, leicht übersichtlichen Einheit dieses Systems liegt
ähnlich wie bei dem System der katholischen Kirchenlehre seine Stärke bei
der Masse. Es springt konkret in die Augen und entwirft das lebende Bild
einer paradiesischen Zukunft. So hat es die Eigenschaft, zu packen. Ob nun
die sozialistischen Führer dies ihr handgreifliches und leicht zu fassendes System
grundsätzlich oder nur agitationsweise verwenden, ja ob auch in der träume¬
rischen Phantastik der sozialdemokratischen Arbeitermassen sich noch edlere
Bilder im Hintergrunde bewegen, als die des bloß sinnlichen Genusses, ob
durch die sozialdemokratische Umgestaltung der materiellen Verhältnisse auch
eine höhere, leibliche und geistige Entwicklung des Menschengeschlechts herbei¬
geführt wird, wie die proletarisch-wissenschaftlichen Weisen prophezeien, für diese
Untersuchung die kritische Sonde anzulegen hat für alle die keinen Wert, die aus
der Geschichte gelernt haben, alle utopistischen Prophezeiungen für das zu
nehmen, als was sie sich zuletzt immer ausweisen, Narrenspossen oder Schwindel.
Daß sich die sozialdemokratischen Führer Hinterthüren genug offen lassen,
wenn es gilt, ihre plumpen Gedanken nicht gar zu brutal erscheinen zu lassen,
wissen wir; aber darauf irgend welche Hoffnung auf Umkehr bauen, auch
wenn einmal in der Weise Vollmars gesprochen wird, wäre thöricht. Mit
der bürgerlichen Gesellschaft, die eine andre Werttheorie und damit eine andre
Grundlage ihres Bestandes hat, als die sozialdemokratische, läßt sich diese
gerade so wenig in irgend welche Verbindung bringe", als sich Feuer und
Wasser mischen läßt. Wenn die Sozialdemokratie irgend eine heilsame Be¬
deutung heutzutage hat, so ist es die, daß sie die verschiedenen bürgerlichen
und kirchlichen Parteien, die Liebe zum Vaterlande haben, für den Kampf
gegen die revolutionäre Partei zum Ganzen eint.


2
Die Sozialdemokratie und die üble Laune

In dem vorstehenden Rückblick hat ein sonst sehr hochgeschätzter Mit¬
arbeiter der Grenzboten ans recht unwirscher Stimmung heraus eine Straf-


wer hat Recht?

Das sind die Ziele der sozialdemokratischen Partei „innerhalb der heutigen
Gesellschaft." Und wenn auch Herr von Vollmar und mit ihm Wohl mancher
seiner Genossen jetzt sagt: „Über der Zukunft dürfen wir das Nächste nicht
vergessen," so bleibt diese Zukunft doch allein des Erstrebeus wert, und „das
Nächste" ist eben nur „Abschlagszahlung." Ist bei solcher Anschauung nun
irgend welche Unterhandlung mit der sozialdemokratischen Partei noch möglich?
Wir sagen nein!

Die „proletarisch-wissenschaftliche" Anschauung beruht im letzten Grnnde
darauf, daß ihr die materiellen Güter allein gelten. Dieser plumpe Gedanke,
mit voller Folgerichtigkeit zum System ausgeführt, ist es, der die Massen
ergreift; in der kärglichen, leicht übersichtlichen Einheit dieses Systems liegt
ähnlich wie bei dem System der katholischen Kirchenlehre seine Stärke bei
der Masse. Es springt konkret in die Augen und entwirft das lebende Bild
einer paradiesischen Zukunft. So hat es die Eigenschaft, zu packen. Ob nun
die sozialistischen Führer dies ihr handgreifliches und leicht zu fassendes System
grundsätzlich oder nur agitationsweise verwenden, ja ob auch in der träume¬
rischen Phantastik der sozialdemokratischen Arbeitermassen sich noch edlere
Bilder im Hintergrunde bewegen, als die des bloß sinnlichen Genusses, ob
durch die sozialdemokratische Umgestaltung der materiellen Verhältnisse auch
eine höhere, leibliche und geistige Entwicklung des Menschengeschlechts herbei¬
geführt wird, wie die proletarisch-wissenschaftlichen Weisen prophezeien, für diese
Untersuchung die kritische Sonde anzulegen hat für alle die keinen Wert, die aus
der Geschichte gelernt haben, alle utopistischen Prophezeiungen für das zu
nehmen, als was sie sich zuletzt immer ausweisen, Narrenspossen oder Schwindel.
Daß sich die sozialdemokratischen Führer Hinterthüren genug offen lassen,
wenn es gilt, ihre plumpen Gedanken nicht gar zu brutal erscheinen zu lassen,
wissen wir; aber darauf irgend welche Hoffnung auf Umkehr bauen, auch
wenn einmal in der Weise Vollmars gesprochen wird, wäre thöricht. Mit
der bürgerlichen Gesellschaft, die eine andre Werttheorie und damit eine andre
Grundlage ihres Bestandes hat, als die sozialdemokratische, läßt sich diese
gerade so wenig in irgend welche Verbindung bringe», als sich Feuer und
Wasser mischen läßt. Wenn die Sozialdemokratie irgend eine heilsame Be¬
deutung heutzutage hat, so ist es die, daß sie die verschiedenen bürgerlichen
und kirchlichen Parteien, die Liebe zum Vaterlande haben, für den Kampf
gegen die revolutionäre Partei zum Ganzen eint.


2
Die Sozialdemokratie und die üble Laune

In dem vorstehenden Rückblick hat ein sonst sehr hochgeschätzter Mit¬
arbeiter der Grenzboten ans recht unwirscher Stimmung heraus eine Straf-


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[0116] wer hat Recht? Das sind die Ziele der sozialdemokratischen Partei „innerhalb der heutigen Gesellschaft." Und wenn auch Herr von Vollmar und mit ihm Wohl mancher seiner Genossen jetzt sagt: „Über der Zukunft dürfen wir das Nächste nicht vergessen," so bleibt diese Zukunft doch allein des Erstrebeus wert, und „das Nächste" ist eben nur „Abschlagszahlung." Ist bei solcher Anschauung nun irgend welche Unterhandlung mit der sozialdemokratischen Partei noch möglich? Wir sagen nein! Die „proletarisch-wissenschaftliche" Anschauung beruht im letzten Grnnde darauf, daß ihr die materiellen Güter allein gelten. Dieser plumpe Gedanke, mit voller Folgerichtigkeit zum System ausgeführt, ist es, der die Massen ergreift; in der kärglichen, leicht übersichtlichen Einheit dieses Systems liegt ähnlich wie bei dem System der katholischen Kirchenlehre seine Stärke bei der Masse. Es springt konkret in die Augen und entwirft das lebende Bild einer paradiesischen Zukunft. So hat es die Eigenschaft, zu packen. Ob nun die sozialistischen Führer dies ihr handgreifliches und leicht zu fassendes System grundsätzlich oder nur agitationsweise verwenden, ja ob auch in der träume¬ rischen Phantastik der sozialdemokratischen Arbeitermassen sich noch edlere Bilder im Hintergrunde bewegen, als die des bloß sinnlichen Genusses, ob durch die sozialdemokratische Umgestaltung der materiellen Verhältnisse auch eine höhere, leibliche und geistige Entwicklung des Menschengeschlechts herbei¬ geführt wird, wie die proletarisch-wissenschaftlichen Weisen prophezeien, für diese Untersuchung die kritische Sonde anzulegen hat für alle die keinen Wert, die aus der Geschichte gelernt haben, alle utopistischen Prophezeiungen für das zu nehmen, als was sie sich zuletzt immer ausweisen, Narrenspossen oder Schwindel. Daß sich die sozialdemokratischen Führer Hinterthüren genug offen lassen, wenn es gilt, ihre plumpen Gedanken nicht gar zu brutal erscheinen zu lassen, wissen wir; aber darauf irgend welche Hoffnung auf Umkehr bauen, auch wenn einmal in der Weise Vollmars gesprochen wird, wäre thöricht. Mit der bürgerlichen Gesellschaft, die eine andre Werttheorie und damit eine andre Grundlage ihres Bestandes hat, als die sozialdemokratische, läßt sich diese gerade so wenig in irgend welche Verbindung bringe», als sich Feuer und Wasser mischen läßt. Wenn die Sozialdemokratie irgend eine heilsame Be¬ deutung heutzutage hat, so ist es die, daß sie die verschiedenen bürgerlichen und kirchlichen Parteien, die Liebe zum Vaterlande haben, für den Kampf gegen die revolutionäre Partei zum Ganzen eint. 2 Die Sozialdemokratie und die üble Laune In dem vorstehenden Rückblick hat ein sonst sehr hochgeschätzter Mit¬ arbeiter der Grenzboten ans recht unwirscher Stimmung heraus eine Straf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/116>, abgerufen am 23.07.2024.