Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
wer hat Recht?

Unglück, verlangte die Zusammenberufung eines konstitnirenden Parlaments,
das auch Deutsch-Österreich mit einschlösse, und stellte eine Anzahl von For¬
derungen auf, die dem Programm des äußersten politischen Radikalismus ent¬
nommen waren. Wir erwähnen das. weil diese Forderungen auch in die
späteren sozialdemokratischen Programme, wie in das Eisenacher und Gothaer,
aufgenommen worden sind und fort und fort von den Sozialdemokraten als
schon im heutigen Staate zu verwirklichende aufgestellt wurden und werde".
Diese Forderungen sind zum Teil bereits in unsre staatliche Ordnung aufge¬
nommen worden, wie z. B. das allgemeine Stimmrecht und die Koalitions¬
freiheit; sie werden aber noch immer erhoben, weil sie erst im sozialdemokra¬
tischen Staate wahrhaft erfüllt werden und zum Heile gedeihen können. Mit
diesem Verfahren fängt man eine Menge Gimpel ein, die bei den Wahlen die
Partei verstärken, weil sie des Glaubens leben, daß die Sozialdemokratie doch
auch "berechtigte Forderungen" habe, die man unterstützen müsse. Teils find
es auch Forderungen, die der fortschrittlichen Phrase entlehnt sind, scheinbar
nicht sozialistisch, aber in Wahrheit so weitgehend, daß wir, wenn sie durch¬
geführt würden, eines schönen Morgens aufwachen würden, um zu bemerken,
daß wir aus dein fortschrittlichen Lager plötzlich in die sozialistische Utopie
hineingefallen wären, die ohne alle weitere Mühe durch einfache Volksabstim-
mung hervorgezaubert wäre. Denn das ist der "gesetzliche Weg," der jetzt
nach Aufhebung des Sozialistengesetzes eingeschlagen werden soll.

Auf diese Einführung des sozialistischen Staates durch gesetzliche Abstim¬
mung weisen die verschmitzten Agitatoren der Sozialdemokratie so gern hin,
wenn sie davon reden, daß die neue Gesellschaftsform ohne Blutvergießen,
ohne jegliche Gewalt, ganz im Frieden herbeigeführt werden könne, und daß
es nur der böse Wille der niederträchtigen Bourgeoisie sei, der das verhindre.

Diese Forderungen sind also die "nächsten Ziele" der Partei. Ausdrück¬
lich wird betont, daß sie dazu dienen sollen, die Lösung der sozialen Frage
anzubahnen, als z. V. Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe. Diese sind
allerdings heutzutage meist, wenn auch nicht allgemein aus den sozialistischen
Programmen entfernt, weil bei ihrer Verwirklichung die Gefahr besteht, daß
der eintretende Schiffbruch solcher Versuche allen jetzt noch zu Abderiteu-
streicheu geneigten Schwärmern der bürgerlichen Gesellschaft die Besinnung
sehr schnell bringen würde. Weiter werden insbesondre als Forderungen schon
sür den heutigen Staat aufgestellt: direktes Wahlrecht aller schon vom zwan¬
zigsten Lebensjahre an sür alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und
Gemeinde; direkte Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und
Frieden durch das Volk; Volkswchr an Stelle der unproduktive" stehenden
Heere; Rechtsprechung durch das Volk; allgemeine gleiche Bolkserzichung
durch den Staat; eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat "ut
Gemeinde u. f. w.


wer hat Recht?

Unglück, verlangte die Zusammenberufung eines konstitnirenden Parlaments,
das auch Deutsch-Österreich mit einschlösse, und stellte eine Anzahl von For¬
derungen auf, die dem Programm des äußersten politischen Radikalismus ent¬
nommen waren. Wir erwähnen das. weil diese Forderungen auch in die
späteren sozialdemokratischen Programme, wie in das Eisenacher und Gothaer,
aufgenommen worden sind und fort und fort von den Sozialdemokraten als
schon im heutigen Staate zu verwirklichende aufgestellt wurden und werde».
Diese Forderungen sind zum Teil bereits in unsre staatliche Ordnung aufge¬
nommen worden, wie z. B. das allgemeine Stimmrecht und die Koalitions¬
freiheit; sie werden aber noch immer erhoben, weil sie erst im sozialdemokra¬
tischen Staate wahrhaft erfüllt werden und zum Heile gedeihen können. Mit
diesem Verfahren fängt man eine Menge Gimpel ein, die bei den Wahlen die
Partei verstärken, weil sie des Glaubens leben, daß die Sozialdemokratie doch
auch „berechtigte Forderungen" habe, die man unterstützen müsse. Teils find
es auch Forderungen, die der fortschrittlichen Phrase entlehnt sind, scheinbar
nicht sozialistisch, aber in Wahrheit so weitgehend, daß wir, wenn sie durch¬
geführt würden, eines schönen Morgens aufwachen würden, um zu bemerken,
daß wir aus dein fortschrittlichen Lager plötzlich in die sozialistische Utopie
hineingefallen wären, die ohne alle weitere Mühe durch einfache Volksabstim-
mung hervorgezaubert wäre. Denn das ist der „gesetzliche Weg," der jetzt
nach Aufhebung des Sozialistengesetzes eingeschlagen werden soll.

Auf diese Einführung des sozialistischen Staates durch gesetzliche Abstim¬
mung weisen die verschmitzten Agitatoren der Sozialdemokratie so gern hin,
wenn sie davon reden, daß die neue Gesellschaftsform ohne Blutvergießen,
ohne jegliche Gewalt, ganz im Frieden herbeigeführt werden könne, und daß
es nur der böse Wille der niederträchtigen Bourgeoisie sei, der das verhindre.

Diese Forderungen sind also die „nächsten Ziele" der Partei. Ausdrück¬
lich wird betont, daß sie dazu dienen sollen, die Lösung der sozialen Frage
anzubahnen, als z. V. Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe. Diese sind
allerdings heutzutage meist, wenn auch nicht allgemein aus den sozialistischen
Programmen entfernt, weil bei ihrer Verwirklichung die Gefahr besteht, daß
der eintretende Schiffbruch solcher Versuche allen jetzt noch zu Abderiteu-
streicheu geneigten Schwärmern der bürgerlichen Gesellschaft die Besinnung
sehr schnell bringen würde. Weiter werden insbesondre als Forderungen schon
sür den heutigen Staat aufgestellt: direktes Wahlrecht aller schon vom zwan¬
zigsten Lebensjahre an sür alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und
Gemeinde; direkte Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und
Frieden durch das Volk; Volkswchr an Stelle der unproduktive» stehenden
Heere; Rechtsprechung durch das Volk; allgemeine gleiche Bolkserzichung
durch den Staat; eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat »ut
Gemeinde u. f. w.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289883"/>
            <fw type="header" place="top"> wer hat Recht?</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_332" prev="#ID_331"> Unglück, verlangte die Zusammenberufung eines konstitnirenden Parlaments,<lb/>
das auch Deutsch-Österreich mit einschlösse, und stellte eine Anzahl von For¬<lb/>
derungen auf, die dem Programm des äußersten politischen Radikalismus ent¬<lb/>
nommen waren.  Wir erwähnen das. weil diese Forderungen auch in die<lb/>
späteren sozialdemokratischen Programme, wie in das Eisenacher und Gothaer,<lb/>
aufgenommen worden sind und fort und fort von den Sozialdemokraten als<lb/>
schon im heutigen Staate zu verwirklichende aufgestellt wurden und werde».<lb/>
Diese Forderungen sind zum Teil bereits in unsre staatliche Ordnung aufge¬<lb/>
nommen worden, wie z. B. das allgemeine Stimmrecht und die Koalitions¬<lb/>
freiheit; sie werden aber noch immer erhoben, weil sie erst im sozialdemokra¬<lb/>
tischen Staate wahrhaft erfüllt werden und zum Heile gedeihen können. Mit<lb/>
diesem Verfahren fängt man eine Menge Gimpel ein, die bei den Wahlen die<lb/>
Partei verstärken, weil sie des Glaubens leben, daß die Sozialdemokratie doch<lb/>
auch &#x201E;berechtigte Forderungen" habe, die man unterstützen müsse.  Teils find<lb/>
es auch Forderungen, die der fortschrittlichen Phrase entlehnt sind, scheinbar<lb/>
nicht sozialistisch, aber in Wahrheit so weitgehend, daß wir, wenn sie durch¬<lb/>
geführt würden, eines schönen Morgens aufwachen würden, um zu bemerken,<lb/>
daß wir aus dein fortschrittlichen Lager plötzlich in die sozialistische Utopie<lb/>
hineingefallen wären, die ohne alle weitere Mühe durch einfache Volksabstim-<lb/>
mung hervorgezaubert wäre.  Denn das ist der &#x201E;gesetzliche Weg," der jetzt<lb/>
nach Aufhebung des Sozialistengesetzes eingeschlagen werden soll.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_333"> Auf diese Einführung des sozialistischen Staates durch gesetzliche Abstim¬<lb/>
mung weisen die verschmitzten Agitatoren der Sozialdemokratie so gern hin,<lb/>
wenn sie davon reden, daß die neue Gesellschaftsform ohne Blutvergießen,<lb/>
ohne jegliche Gewalt, ganz im Frieden herbeigeführt werden könne, und daß<lb/>
es nur der böse Wille der niederträchtigen Bourgeoisie sei, der das verhindre.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_334"> Diese Forderungen sind also die &#x201E;nächsten Ziele" der Partei. Ausdrück¬<lb/>
lich wird betont, daß sie dazu dienen sollen, die Lösung der sozialen Frage<lb/>
anzubahnen, als z. V. Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe. Diese sind<lb/>
allerdings heutzutage meist, wenn auch nicht allgemein aus den sozialistischen<lb/>
Programmen entfernt, weil bei ihrer Verwirklichung die Gefahr besteht, daß<lb/>
der eintretende Schiffbruch solcher Versuche allen jetzt noch zu Abderiteu-<lb/>
streicheu geneigten Schwärmern der bürgerlichen Gesellschaft die Besinnung<lb/>
sehr schnell bringen würde. Weiter werden insbesondre als Forderungen schon<lb/>
sür den heutigen Staat aufgestellt: direktes Wahlrecht aller schon vom zwan¬<lb/>
zigsten Lebensjahre an sür alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und<lb/>
Gemeinde; direkte Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und<lb/>
Frieden durch das Volk; Volkswchr an Stelle der unproduktive» stehenden<lb/>
Heere; Rechtsprechung durch das Volk; allgemeine gleiche Bolkserzichung<lb/>
durch den Staat; eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat »ut<lb/>
Gemeinde u. f. w.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0115] wer hat Recht? Unglück, verlangte die Zusammenberufung eines konstitnirenden Parlaments, das auch Deutsch-Österreich mit einschlösse, und stellte eine Anzahl von For¬ derungen auf, die dem Programm des äußersten politischen Radikalismus ent¬ nommen waren. Wir erwähnen das. weil diese Forderungen auch in die späteren sozialdemokratischen Programme, wie in das Eisenacher und Gothaer, aufgenommen worden sind und fort und fort von den Sozialdemokraten als schon im heutigen Staate zu verwirklichende aufgestellt wurden und werde». Diese Forderungen sind zum Teil bereits in unsre staatliche Ordnung aufge¬ nommen worden, wie z. B. das allgemeine Stimmrecht und die Koalitions¬ freiheit; sie werden aber noch immer erhoben, weil sie erst im sozialdemokra¬ tischen Staate wahrhaft erfüllt werden und zum Heile gedeihen können. Mit diesem Verfahren fängt man eine Menge Gimpel ein, die bei den Wahlen die Partei verstärken, weil sie des Glaubens leben, daß die Sozialdemokratie doch auch „berechtigte Forderungen" habe, die man unterstützen müsse. Teils find es auch Forderungen, die der fortschrittlichen Phrase entlehnt sind, scheinbar nicht sozialistisch, aber in Wahrheit so weitgehend, daß wir, wenn sie durch¬ geführt würden, eines schönen Morgens aufwachen würden, um zu bemerken, daß wir aus dein fortschrittlichen Lager plötzlich in die sozialistische Utopie hineingefallen wären, die ohne alle weitere Mühe durch einfache Volksabstim- mung hervorgezaubert wäre. Denn das ist der „gesetzliche Weg," der jetzt nach Aufhebung des Sozialistengesetzes eingeschlagen werden soll. Auf diese Einführung des sozialistischen Staates durch gesetzliche Abstim¬ mung weisen die verschmitzten Agitatoren der Sozialdemokratie so gern hin, wenn sie davon reden, daß die neue Gesellschaftsform ohne Blutvergießen, ohne jegliche Gewalt, ganz im Frieden herbeigeführt werden könne, und daß es nur der böse Wille der niederträchtigen Bourgeoisie sei, der das verhindre. Diese Forderungen sind also die „nächsten Ziele" der Partei. Ausdrück¬ lich wird betont, daß sie dazu dienen sollen, die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, als z. V. Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe. Diese sind allerdings heutzutage meist, wenn auch nicht allgemein aus den sozialistischen Programmen entfernt, weil bei ihrer Verwirklichung die Gefahr besteht, daß der eintretende Schiffbruch solcher Versuche allen jetzt noch zu Abderiteu- streicheu geneigten Schwärmern der bürgerlichen Gesellschaft die Besinnung sehr schnell bringen würde. Weiter werden insbesondre als Forderungen schon sür den heutigen Staat aufgestellt: direktes Wahlrecht aller schon vom zwan¬ zigsten Lebensjahre an sür alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und Gemeinde; direkte Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk; Volkswchr an Stelle der unproduktive» stehenden Heere; Rechtsprechung durch das Volk; allgemeine gleiche Bolkserzichung durch den Staat; eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat »ut Gemeinde u. f. w.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/115
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/115>, abgerufen am 23.07.2024.