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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Jahrhundert berichtet, unter deu österreichischen Ketzern finde sich selten
jemand, der nicht das neue Testament auswendig wisse. Was wir Heutigen
vor den Menschen der frühern christlichen Jahrhunderte voraushaben,
unsre Nüchternheit und Duldsamkeit, das ist weniger persönliches Ver¬
dienst, als die Frucht bitterer Erfahrung und harter Notwendigkeit. Die
Konfessionen haben einander gegenseitig nicht ausrotten können, so vertragen
sie sich denn mit einander. Und daß die einseitige und folgerichtige Durch¬
führung einer Idee oder einiger Ideen die Welt in ein Tollhaus verwandle,
davon hat die französische Revolution alle Verständigen gründlich überzeugt.
So sind wir denn zu der Überzeugung gelangt, daß der Kampf zwischen
Menschen, Körperschaften und Ideen nicht die Vernichtung des Gegners,
sondern nur die Selbsterhaltung und die Wiederherstellung des gestörten Gleich¬
gewichts zum Zwecke haben dürfe. An Schwärmern fehlt es auch heute
nicht ans religiösem, kirchlichem, politischem, nationalem und sozialem Gebiete.
Darum gilt es, immer den Kopf oben zu behalten und in keinem noch so
hitzigen Parteikämpfe jene mühsam errungenen Güter der Nüchternheit und
Verträglichkeit preiszugeben.




Robert Hamerling

s ist
auffallend, daß bis jetzt keine eingehendere Arbeit über
den seit zwei Jahren (seit dem 18. Juli 1889) verstorbenen
Dichter Robert Hamerling erschienen ist. Unmittelbar nach seinem
Tode haben zwei Schriftsteller aus seiner nächsten Umgebung in
Graz allerdings sehr rasch zwei biographische Hefte über ihn ver¬
öffentlicht, Karl Erasmus Kleinere und Aurelius Polzer; aber da sie dilettantisch
und kritiklos die Selbstbiographie Hmnerliugs und seine Dichtungen in aller
Eile ausgezogen hatten, so sind diese Zitatensammlnngen mit verbindenden
Text ohne Wert und scheinen viel mehr den litterarischen Markt verdorben,
als der Sache des Dichters irgendwie genutzt zu haben. Vergangenen Winter
hat ein andrer seiner Freunde, Albert Möser, in schlichter Weise seine "Be¬
ziehungen zu Robert Hamerling" erzählt und die von Hamerling an ihn ge¬
schriebenen Briefe (aus den sechziger Jahre") in seinen Text verflochten. Dieses
Büchlein ist ein hübscher Beitrag zur Kenntnis Hamerlings als Menschen,
aber auch keine kritische Würdigung des Dichters. Merkwürdigerweise herrscht
in allen diesen Schriften ein superlativischer Ton der Begeisterung, der eben


Grenzboten II 1891 3"

Jahrhundert berichtet, unter deu österreichischen Ketzern finde sich selten
jemand, der nicht das neue Testament auswendig wisse. Was wir Heutigen
vor den Menschen der frühern christlichen Jahrhunderte voraushaben,
unsre Nüchternheit und Duldsamkeit, das ist weniger persönliches Ver¬
dienst, als die Frucht bitterer Erfahrung und harter Notwendigkeit. Die
Konfessionen haben einander gegenseitig nicht ausrotten können, so vertragen
sie sich denn mit einander. Und daß die einseitige und folgerichtige Durch¬
führung einer Idee oder einiger Ideen die Welt in ein Tollhaus verwandle,
davon hat die französische Revolution alle Verständigen gründlich überzeugt.
So sind wir denn zu der Überzeugung gelangt, daß der Kampf zwischen
Menschen, Körperschaften und Ideen nicht die Vernichtung des Gegners,
sondern nur die Selbsterhaltung und die Wiederherstellung des gestörten Gleich¬
gewichts zum Zwecke haben dürfe. An Schwärmern fehlt es auch heute
nicht ans religiösem, kirchlichem, politischem, nationalem und sozialem Gebiete.
Darum gilt es, immer den Kopf oben zu behalten und in keinem noch so
hitzigen Parteikämpfe jene mühsam errungenen Güter der Nüchternheit und
Verträglichkeit preiszugeben.




Robert Hamerling

s ist
auffallend, daß bis jetzt keine eingehendere Arbeit über
den seit zwei Jahren (seit dem 18. Juli 1889) verstorbenen
Dichter Robert Hamerling erschienen ist. Unmittelbar nach seinem
Tode haben zwei Schriftsteller aus seiner nächsten Umgebung in
Graz allerdings sehr rasch zwei biographische Hefte über ihn ver¬
öffentlicht, Karl Erasmus Kleinere und Aurelius Polzer; aber da sie dilettantisch
und kritiklos die Selbstbiographie Hmnerliugs und seine Dichtungen in aller
Eile ausgezogen hatten, so sind diese Zitatensammlnngen mit verbindenden
Text ohne Wert und scheinen viel mehr den litterarischen Markt verdorben,
als der Sache des Dichters irgendwie genutzt zu haben. Vergangenen Winter
hat ein andrer seiner Freunde, Albert Möser, in schlichter Weise seine „Be¬
ziehungen zu Robert Hamerling" erzählt und die von Hamerling an ihn ge¬
schriebenen Briefe (aus den sechziger Jahre») in seinen Text verflochten. Dieses
Büchlein ist ein hübscher Beitrag zur Kenntnis Hamerlings als Menschen,
aber auch keine kritische Würdigung des Dichters. Merkwürdigerweise herrscht
in allen diesen Schriften ein superlativischer Ton der Begeisterung, der eben


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[0285] Jahrhundert berichtet, unter deu österreichischen Ketzern finde sich selten jemand, der nicht das neue Testament auswendig wisse. Was wir Heutigen vor den Menschen der frühern christlichen Jahrhunderte voraushaben, unsre Nüchternheit und Duldsamkeit, das ist weniger persönliches Ver¬ dienst, als die Frucht bitterer Erfahrung und harter Notwendigkeit. Die Konfessionen haben einander gegenseitig nicht ausrotten können, so vertragen sie sich denn mit einander. Und daß die einseitige und folgerichtige Durch¬ führung einer Idee oder einiger Ideen die Welt in ein Tollhaus verwandle, davon hat die französische Revolution alle Verständigen gründlich überzeugt. So sind wir denn zu der Überzeugung gelangt, daß der Kampf zwischen Menschen, Körperschaften und Ideen nicht die Vernichtung des Gegners, sondern nur die Selbsterhaltung und die Wiederherstellung des gestörten Gleich¬ gewichts zum Zwecke haben dürfe. An Schwärmern fehlt es auch heute nicht ans religiösem, kirchlichem, politischem, nationalem und sozialem Gebiete. Darum gilt es, immer den Kopf oben zu behalten und in keinem noch so hitzigen Parteikämpfe jene mühsam errungenen Güter der Nüchternheit und Verträglichkeit preiszugeben. Robert Hamerling s ist auffallend, daß bis jetzt keine eingehendere Arbeit über den seit zwei Jahren (seit dem 18. Juli 1889) verstorbenen Dichter Robert Hamerling erschienen ist. Unmittelbar nach seinem Tode haben zwei Schriftsteller aus seiner nächsten Umgebung in Graz allerdings sehr rasch zwei biographische Hefte über ihn ver¬ öffentlicht, Karl Erasmus Kleinere und Aurelius Polzer; aber da sie dilettantisch und kritiklos die Selbstbiographie Hmnerliugs und seine Dichtungen in aller Eile ausgezogen hatten, so sind diese Zitatensammlnngen mit verbindenden Text ohne Wert und scheinen viel mehr den litterarischen Markt verdorben, als der Sache des Dichters irgendwie genutzt zu haben. Vergangenen Winter hat ein andrer seiner Freunde, Albert Möser, in schlichter Weise seine „Be¬ ziehungen zu Robert Hamerling" erzählt und die von Hamerling an ihn ge¬ schriebenen Briefe (aus den sechziger Jahre») in seinen Text verflochten. Dieses Büchlein ist ein hübscher Beitrag zur Kenntnis Hamerlings als Menschen, aber auch keine kritische Würdigung des Dichters. Merkwürdigerweise herrscht in allen diesen Schriften ein superlativischer Ton der Begeisterung, der eben Grenzboten II 1891 3«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/285>, abgerufen am 24.07.2024.