Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.Die soziale Frage Existenz viel mehr wert war. Durch die alten Höfeordnnngcn war ganz 8 Ein zweiter Lehrsatz Adam Smiths lautete: Selbstsucht ist die einzige Eine willkommnere Predigt hatten die englischen Lords und Fabrikanten Die soziale Frage Existenz viel mehr wert war. Durch die alten Höfeordnnngcn war ganz 8 Ein zweiter Lehrsatz Adam Smiths lautete: Selbstsucht ist die einzige Eine willkommnere Predigt hatten die englischen Lords und Fabrikanten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0604" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207899"/> <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_1672" prev="#ID_1671"> Existenz viel mehr wert war. Durch die alten Höfeordnnngcn war ganz<lb/> genan vorgeschrieben, nicht allein was der Hörige dein Herr» an Arbeit zu<lb/> leisten, sondern auch, was der Herr dem Hörigen an Deputat zu gewahren<lb/> hatte, und das war immer so bemessen, daß sich dessen ganze Familie an<lb/> kräftiger Kost satt essen konnte. War ein solches Deputat mit einem Hänschen<lb/> nicht zehnmal mehr wert, als fünfhundert Mark Geld bei völliger Existenz¬<lb/> unsicherheit?</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> 8</head><lb/> <p xml:id="ID_1673"> Ein zweiter Lehrsatz Adam Smiths lautete: Selbstsucht ist die einzige<lb/> Triebfeder des Handelns; Wohlwollen und Nächstenliebe sind nur Vorwände.<lb/> Eine Handlung wie die Freilassung von Sklaven kann niemals aus Nächsten¬<lb/> liebe hervorgehen; wo Sklaven freigelassen werden, da geschieht es, weil die<lb/> Sklavenhaltnug nicht mehr vorteilhaft ist. Indem jeder mir seinen eignen<lb/> Nutzen verfolgt, befördert er zugleich das Wohl seiner Nebenmenschen weit<lb/> wirksamer, als wenn er sich für diese aufopferte; unmittelbare Fürsorge für<lb/> andre durch Unterstützung und wohlwollende Bevormundung richtet uur Unheil<lb/> an. Folge uur jeder seinen selbstsüchtigen Trieben und kümmere sich sonst um<lb/> nichts, so kommt dabei das höchste erreichbare Wohl aller heraus; denn so<lb/> hat der Schöpfer die Welt nun einmal eingerichtet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1674" next="#ID_1675"> Eine willkommnere Predigt hatten die englischen Lords und Fabrikanten<lb/> noch nie im Leben vernommen. Man kann sich denken, mit welcher Andacht<lb/> sie sie anhörten und mit welchem Eifer sie sie befolgten. Wenn die Lords<lb/> nun ihre Pächter von Haus und Hof trieben und so Bettlerhorden schufen,<lb/> die in Arbeitshäuser gesperrt, dort schlimmer als Zuchthäusler behandelt und<lb/> samt ihrem unglücklichen Nachwuchs an die Fabrikanten verschachert wurden,<lb/> die so viel Arbeit aus ihnen herauspreßten, als sich aus stets hungernden,<lb/> schwindsüchtiger und stumpfsinnigen Menschen Heranspressen läßt, so genossen<lb/> beide, Lords wie Fabrikanten, zum Vergnügen und zum Vorteil auch noch<lb/> das erhebende Bewußtsein, dein Gemeinwohl gedient und das Wohl ihrer<lb/> Nebenmenschen gefördert zu haben. Früher hatte die Arbeit als eine per¬<lb/> sönliche Leistung gegolten, die zu einer entsprechenden Gegenleistung verpflichtete,<lb/> und die Gegenleistung mußte so bemessen sein, daß der Arbeiter als Mensch,<lb/> und wenn er verheiratet war, als Familienvater bestehen konnte. Nach den<lb/> Gesetzen der Königin Elisabeth, die die althergebrachten Jnnungsordnungen<lb/> aufzeichne« ließ, durfte die tägliche Arbeitszeit zwölf Stunden nicht über¬<lb/> schreiten, hatten die Friedensrichter und Stadtvbrigkeiten die Streitigkeiten<lb/> zwischen Meistern und Gesellen oder Lehrlingen zu schlichten und alljährlich<lb/> den Lohn festzusetzen in solcher Höhe, „daß er sowohl in Zeiten des Mangels<lb/> als des Überflusses für die Bedürfnisse des Arbeiters hinreichte." Unter dein<lb/> Einflüsse Smiths aber wurde die Arbeit zur Ware, deren Preis sich nach dem.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0604]
Die soziale Frage
Existenz viel mehr wert war. Durch die alten Höfeordnnngcn war ganz
genan vorgeschrieben, nicht allein was der Hörige dein Herr» an Arbeit zu
leisten, sondern auch, was der Herr dem Hörigen an Deputat zu gewahren
hatte, und das war immer so bemessen, daß sich dessen ganze Familie an
kräftiger Kost satt essen konnte. War ein solches Deputat mit einem Hänschen
nicht zehnmal mehr wert, als fünfhundert Mark Geld bei völliger Existenz¬
unsicherheit?
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Ein zweiter Lehrsatz Adam Smiths lautete: Selbstsucht ist die einzige
Triebfeder des Handelns; Wohlwollen und Nächstenliebe sind nur Vorwände.
Eine Handlung wie die Freilassung von Sklaven kann niemals aus Nächsten¬
liebe hervorgehen; wo Sklaven freigelassen werden, da geschieht es, weil die
Sklavenhaltnug nicht mehr vorteilhaft ist. Indem jeder mir seinen eignen
Nutzen verfolgt, befördert er zugleich das Wohl seiner Nebenmenschen weit
wirksamer, als wenn er sich für diese aufopferte; unmittelbare Fürsorge für
andre durch Unterstützung und wohlwollende Bevormundung richtet uur Unheil
an. Folge uur jeder seinen selbstsüchtigen Trieben und kümmere sich sonst um
nichts, so kommt dabei das höchste erreichbare Wohl aller heraus; denn so
hat der Schöpfer die Welt nun einmal eingerichtet.
Eine willkommnere Predigt hatten die englischen Lords und Fabrikanten
noch nie im Leben vernommen. Man kann sich denken, mit welcher Andacht
sie sie anhörten und mit welchem Eifer sie sie befolgten. Wenn die Lords
nun ihre Pächter von Haus und Hof trieben und so Bettlerhorden schufen,
die in Arbeitshäuser gesperrt, dort schlimmer als Zuchthäusler behandelt und
samt ihrem unglücklichen Nachwuchs an die Fabrikanten verschachert wurden,
die so viel Arbeit aus ihnen herauspreßten, als sich aus stets hungernden,
schwindsüchtiger und stumpfsinnigen Menschen Heranspressen läßt, so genossen
beide, Lords wie Fabrikanten, zum Vergnügen und zum Vorteil auch noch
das erhebende Bewußtsein, dein Gemeinwohl gedient und das Wohl ihrer
Nebenmenschen gefördert zu haben. Früher hatte die Arbeit als eine per¬
sönliche Leistung gegolten, die zu einer entsprechenden Gegenleistung verpflichtete,
und die Gegenleistung mußte so bemessen sein, daß der Arbeiter als Mensch,
und wenn er verheiratet war, als Familienvater bestehen konnte. Nach den
Gesetzen der Königin Elisabeth, die die althergebrachten Jnnungsordnungen
aufzeichne« ließ, durfte die tägliche Arbeitszeit zwölf Stunden nicht über¬
schreiten, hatten die Friedensrichter und Stadtvbrigkeiten die Streitigkeiten
zwischen Meistern und Gesellen oder Lehrlingen zu schlichten und alljährlich
den Lohn festzusetzen in solcher Höhe, „daß er sowohl in Zeiten des Mangels
als des Überflusses für die Bedürfnisse des Arbeiters hinreichte." Unter dein
Einflüsse Smiths aber wurde die Arbeit zur Ware, deren Preis sich nach dem.
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