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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Sozialismus und Erziehung

eigentlichen Sozialgesetzgebung braucht der Staat die Kirche nicht; will er aber
dem. Übel an die Wurzel gehen, will er heilen, will er die aus den Fugen
gegangene Gesellschaft neu ordnen, will er seinen Einfluß zu Gunsten der Zucht,
der Sitte, der Ordnung, der Wirtschaftlichkeit geltend machen, so kann er die
Hilfe der Kirche nicht entbehren. Eine Gesetzgebung, die sich mit solchen
Dingen abgiebt, hält mancher sür unmöglich; aber nur werden sie ja doch
haben, jn wir haben sie zum Teil schon jetzt. Nun aber braucht jedes
Gesetz, um zur Wirkung zu kommen, der ausführenden Organe; wo diese
Organe nicht vorhanden find, oder wo die Ausführung ungeeigneten Organen
übertragen wird, bleibt der beste Wille und die weiseste Vorschrift tot. Für
alle gesetzlichen Regelungen, die sich auf die Besserung der Sitten des Volkes
beziehen, ist das Pfarramt das gewiesene ausführende Organ. Man hat höchst
unwirtschaftlich gehandelt, daß man die Pfarrer als entbehrlich beiseite ge¬
schoben und alles den Landräten und Amtsvvrstehern aufgehalst hat. Jn den
Pfarrern könnte der Staat, wenn er wollte, eine große Zahl von Helfern
haben, denen er bestimmte Wirkungskreise aufthun müßte. Wie wir uns das
denken, davon soll später noch die Rede fein.

Um dahin zu kommen, müßte sich noch manches ändern. Es müßte an
maßgebender staatlicher Stelle etwas mehr Wärme für das Volk, dem geholfen
werden, und für die Kirche, die helfen foll, vorhanden sein. Wir hoffen, daß
die neue Sonne in jenen nach unserm Gefühle etwas eisigen Höhen eine be¬
lebende Wirkung üben werde. Es müßte in der Gesetzgebung die Überzeugung
durchdringen, daß gründlich gebessert werden muß, wenn etwas besser werden
foll, es müßte in jenen Kreisen, die mit klugem und kühlem Rate zur Hand
sind, eingesehen werden, daß es nicht auf Worte, sondern auf Thaten ankommt,
und daß es unmöglich ist, das Volk "religiös" zu machen, wenn nicht die,
die um hervorragender Stelle stehen, selbst mit gutem Beispiele vorangehen.




Sozialismus und Erziehung

ein Erlaß Kaiser Friedrichs an den Reichskanzler vom 12. März
1888 reihen sich die neuern Kronbefehle Kaiser Wilhelms II. an
das Kadetten- und das Offizierkorps an. So verschieden in ihrem
Inhalt diese Äußerungen sein mögen, so stehen sie doch in einem
innern Zusammenhange. Sie gehen aus von dem Gedanken, daß
durch die Erziehung bestimmte Wirkungen für das gesellschaftliche Leben im
allgemeinen wie für einzelne Berufszweige im besondern erwartet werden können.


Grenzboten II t890 62
Sozialismus und Erziehung

eigentlichen Sozialgesetzgebung braucht der Staat die Kirche nicht; will er aber
dem. Übel an die Wurzel gehen, will er heilen, will er die aus den Fugen
gegangene Gesellschaft neu ordnen, will er seinen Einfluß zu Gunsten der Zucht,
der Sitte, der Ordnung, der Wirtschaftlichkeit geltend machen, so kann er die
Hilfe der Kirche nicht entbehren. Eine Gesetzgebung, die sich mit solchen
Dingen abgiebt, hält mancher sür unmöglich; aber nur werden sie ja doch
haben, jn wir haben sie zum Teil schon jetzt. Nun aber braucht jedes
Gesetz, um zur Wirkung zu kommen, der ausführenden Organe; wo diese
Organe nicht vorhanden find, oder wo die Ausführung ungeeigneten Organen
übertragen wird, bleibt der beste Wille und die weiseste Vorschrift tot. Für
alle gesetzlichen Regelungen, die sich auf die Besserung der Sitten des Volkes
beziehen, ist das Pfarramt das gewiesene ausführende Organ. Man hat höchst
unwirtschaftlich gehandelt, daß man die Pfarrer als entbehrlich beiseite ge¬
schoben und alles den Landräten und Amtsvvrstehern aufgehalst hat. Jn den
Pfarrern könnte der Staat, wenn er wollte, eine große Zahl von Helfern
haben, denen er bestimmte Wirkungskreise aufthun müßte. Wie wir uns das
denken, davon soll später noch die Rede fein.

Um dahin zu kommen, müßte sich noch manches ändern. Es müßte an
maßgebender staatlicher Stelle etwas mehr Wärme für das Volk, dem geholfen
werden, und für die Kirche, die helfen foll, vorhanden sein. Wir hoffen, daß
die neue Sonne in jenen nach unserm Gefühle etwas eisigen Höhen eine be¬
lebende Wirkung üben werde. Es müßte in der Gesetzgebung die Überzeugung
durchdringen, daß gründlich gebessert werden muß, wenn etwas besser werden
foll, es müßte in jenen Kreisen, die mit klugem und kühlem Rate zur Hand
sind, eingesehen werden, daß es nicht auf Worte, sondern auf Thaten ankommt,
und daß es unmöglich ist, das Volk „religiös" zu machen, wenn nicht die,
die um hervorragender Stelle stehen, selbst mit gutem Beispiele vorangehen.




Sozialismus und Erziehung

ein Erlaß Kaiser Friedrichs an den Reichskanzler vom 12. März
1888 reihen sich die neuern Kronbefehle Kaiser Wilhelms II. an
das Kadetten- und das Offizierkorps an. So verschieden in ihrem
Inhalt diese Äußerungen sein mögen, so stehen sie doch in einem
innern Zusammenhange. Sie gehen aus von dem Gedanken, daß
durch die Erziehung bestimmte Wirkungen für das gesellschaftliche Leben im
allgemeinen wie für einzelne Berufszweige im besondern erwartet werden können.


Grenzboten II t890 62
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[0497] Sozialismus und Erziehung eigentlichen Sozialgesetzgebung braucht der Staat die Kirche nicht; will er aber dem. Übel an die Wurzel gehen, will er heilen, will er die aus den Fugen gegangene Gesellschaft neu ordnen, will er seinen Einfluß zu Gunsten der Zucht, der Sitte, der Ordnung, der Wirtschaftlichkeit geltend machen, so kann er die Hilfe der Kirche nicht entbehren. Eine Gesetzgebung, die sich mit solchen Dingen abgiebt, hält mancher sür unmöglich; aber nur werden sie ja doch haben, jn wir haben sie zum Teil schon jetzt. Nun aber braucht jedes Gesetz, um zur Wirkung zu kommen, der ausführenden Organe; wo diese Organe nicht vorhanden find, oder wo die Ausführung ungeeigneten Organen übertragen wird, bleibt der beste Wille und die weiseste Vorschrift tot. Für alle gesetzlichen Regelungen, die sich auf die Besserung der Sitten des Volkes beziehen, ist das Pfarramt das gewiesene ausführende Organ. Man hat höchst unwirtschaftlich gehandelt, daß man die Pfarrer als entbehrlich beiseite ge¬ schoben und alles den Landräten und Amtsvvrstehern aufgehalst hat. Jn den Pfarrern könnte der Staat, wenn er wollte, eine große Zahl von Helfern haben, denen er bestimmte Wirkungskreise aufthun müßte. Wie wir uns das denken, davon soll später noch die Rede fein. Um dahin zu kommen, müßte sich noch manches ändern. Es müßte an maßgebender staatlicher Stelle etwas mehr Wärme für das Volk, dem geholfen werden, und für die Kirche, die helfen foll, vorhanden sein. Wir hoffen, daß die neue Sonne in jenen nach unserm Gefühle etwas eisigen Höhen eine be¬ lebende Wirkung üben werde. Es müßte in der Gesetzgebung die Überzeugung durchdringen, daß gründlich gebessert werden muß, wenn etwas besser werden foll, es müßte in jenen Kreisen, die mit klugem und kühlem Rate zur Hand sind, eingesehen werden, daß es nicht auf Worte, sondern auf Thaten ankommt, und daß es unmöglich ist, das Volk „religiös" zu machen, wenn nicht die, die um hervorragender Stelle stehen, selbst mit gutem Beispiele vorangehen. Sozialismus und Erziehung ein Erlaß Kaiser Friedrichs an den Reichskanzler vom 12. März 1888 reihen sich die neuern Kronbefehle Kaiser Wilhelms II. an das Kadetten- und das Offizierkorps an. So verschieden in ihrem Inhalt diese Äußerungen sein mögen, so stehen sie doch in einem innern Zusammenhange. Sie gehen aus von dem Gedanken, daß durch die Erziehung bestimmte Wirkungen für das gesellschaftliche Leben im allgemeinen wie für einzelne Berufszweige im besondern erwartet werden können. Grenzboten II t890 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/497>, abgerufen am 26.12.2024.