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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Lin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

geschädigt, wenn nur die Güter nicht von Spekulanten ausgeschlachtet
werden, sondern an ebenfalls tüchtige Landwirte bürgerlicher Abkunft über¬
gehen.

In dem Schicksale der einzelnen Gutsbesitzerfnmilie liegt schon das Schicksal
des Volkes vorgebildet, denn das Vaterland ist das Landgut des Volkes.




Gin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

o sichs an die natürlichen Bedingungen und sittlichen Grund¬
lagen des Staates handelt, wo mun über die geistige und phy¬
sische Gesundheit einer Nation zu wachen hat, wo man die
Krankheitei? und ihren Ansteckungsherd in unsrer ganzen Kultur
vor allem aufdecken muß, um Abhilfe schaffen zu können, da hat
man jede Rücksicht auf weibische Zimperlichkeit fallen zu lassen. Ein kreißendes
Weib, dessen Gesundheit oder Leben ans dein Spiele steht, handelt unsittlich,
wenn es aus angelernter Prüderie den Arzt zurückweist; eine Nation begeht
ein Verbrechen, wenn sie die Angen ängstlich vor ihren sittlichen Schäden ver¬
schließt und nicht den Mut hat, laut und freimütig darüber zu sprechen, wenn
sie nicht sofort bereit ist, von allen Seiten dagegen vorzugehen.

Ein solches Gebrechen am Körper eines Volkes ist die Prostitution.
Gegen diese Ansicht werden die Freisinnigen nach den letzten Vorgängen im
Preußischen Abgeordnetenhause Einspruch erheben, denn nach ihrer Meinung
gehört dieses Thema nicht in die Öffentlichkeit, nicht in die Laudtagsverhnnd-
lnngen, wo man alle Rücksicht zu nehmen habe ans die empfindsame Tribüne,
auf die keuschen, errötenden Damen da oben: (Zvlu, "0 k-rit, mais us Sö sie xss.
Diese freisinnige Prüderie nimmt sich in der That seltsam aus. Wohin in
aller Welt gehört denn das Thema? Sind die Abgeordneten nur dazu da,
fortwährend in die Lande zu posaune", wie sehr das gesunde Volk unter
dem Drucke des kranke" Staates zu leiden habe? Ist es nicht ihre erste und
heiligste Pflicht, der Nation auch ihre sittliche" Schäden und Krankheiten rück¬
sichtslos zu Gemüte zu führen, und zwar mit so vernehmlicher Stimme, daß
es in alle Lasterhöhlen dringt? Ist es nicht ihre unerläßliche Aufgabe, über
Mittel und Wege zu beraten, wie einem gefährlichen Übel, einem schleichenden
Gifte im Volkskörper der Garaus zu machen sei? Das Thema gehört nicht
nur ins Abgeordnetenhaus, es gehört ans alle Marktplatze, in jede christliche


Lin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

geschädigt, wenn nur die Güter nicht von Spekulanten ausgeschlachtet
werden, sondern an ebenfalls tüchtige Landwirte bürgerlicher Abkunft über¬
gehen.

In dem Schicksale der einzelnen Gutsbesitzerfnmilie liegt schon das Schicksal
des Volkes vorgebildet, denn das Vaterland ist das Landgut des Volkes.




Gin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

o sichs an die natürlichen Bedingungen und sittlichen Grund¬
lagen des Staates handelt, wo mun über die geistige und phy¬
sische Gesundheit einer Nation zu wachen hat, wo man die
Krankheitei? und ihren Ansteckungsherd in unsrer ganzen Kultur
vor allem aufdecken muß, um Abhilfe schaffen zu können, da hat
man jede Rücksicht auf weibische Zimperlichkeit fallen zu lassen. Ein kreißendes
Weib, dessen Gesundheit oder Leben ans dein Spiele steht, handelt unsittlich,
wenn es aus angelernter Prüderie den Arzt zurückweist; eine Nation begeht
ein Verbrechen, wenn sie die Angen ängstlich vor ihren sittlichen Schäden ver¬
schließt und nicht den Mut hat, laut und freimütig darüber zu sprechen, wenn
sie nicht sofort bereit ist, von allen Seiten dagegen vorzugehen.

Ein solches Gebrechen am Körper eines Volkes ist die Prostitution.
Gegen diese Ansicht werden die Freisinnigen nach den letzten Vorgängen im
Preußischen Abgeordnetenhause Einspruch erheben, denn nach ihrer Meinung
gehört dieses Thema nicht in die Öffentlichkeit, nicht in die Laudtagsverhnnd-
lnngen, wo man alle Rücksicht zu nehmen habe ans die empfindsame Tribüne,
auf die keuschen, errötenden Damen da oben: (Zvlu, «0 k-rit, mais us Sö sie xss.
Diese freisinnige Prüderie nimmt sich in der That seltsam aus. Wohin in
aller Welt gehört denn das Thema? Sind die Abgeordneten nur dazu da,
fortwährend in die Lande zu posaune», wie sehr das gesunde Volk unter
dem Drucke des kranke» Staates zu leiden habe? Ist es nicht ihre erste und
heiligste Pflicht, der Nation auch ihre sittliche» Schäden und Krankheiten rück¬
sichtslos zu Gemüte zu führen, und zwar mit so vernehmlicher Stimme, daß
es in alle Lasterhöhlen dringt? Ist es nicht ihre unerläßliche Aufgabe, über
Mittel und Wege zu beraten, wie einem gefährlichen Übel, einem schleichenden
Gifte im Volkskörper der Garaus zu machen sei? Das Thema gehört nicht
nur ins Abgeordnetenhaus, es gehört ans alle Marktplatze, in jede christliche


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[0460] Lin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte geschädigt, wenn nur die Güter nicht von Spekulanten ausgeschlachtet werden, sondern an ebenfalls tüchtige Landwirte bürgerlicher Abkunft über¬ gehen. In dem Schicksale der einzelnen Gutsbesitzerfnmilie liegt schon das Schicksal des Volkes vorgebildet, denn das Vaterland ist das Landgut des Volkes. Gin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte o sichs an die natürlichen Bedingungen und sittlichen Grund¬ lagen des Staates handelt, wo mun über die geistige und phy¬ sische Gesundheit einer Nation zu wachen hat, wo man die Krankheitei? und ihren Ansteckungsherd in unsrer ganzen Kultur vor allem aufdecken muß, um Abhilfe schaffen zu können, da hat man jede Rücksicht auf weibische Zimperlichkeit fallen zu lassen. Ein kreißendes Weib, dessen Gesundheit oder Leben ans dein Spiele steht, handelt unsittlich, wenn es aus angelernter Prüderie den Arzt zurückweist; eine Nation begeht ein Verbrechen, wenn sie die Angen ängstlich vor ihren sittlichen Schäden ver¬ schließt und nicht den Mut hat, laut und freimütig darüber zu sprechen, wenn sie nicht sofort bereit ist, von allen Seiten dagegen vorzugehen. Ein solches Gebrechen am Körper eines Volkes ist die Prostitution. Gegen diese Ansicht werden die Freisinnigen nach den letzten Vorgängen im Preußischen Abgeordnetenhause Einspruch erheben, denn nach ihrer Meinung gehört dieses Thema nicht in die Öffentlichkeit, nicht in die Laudtagsverhnnd- lnngen, wo man alle Rücksicht zu nehmen habe ans die empfindsame Tribüne, auf die keuschen, errötenden Damen da oben: (Zvlu, «0 k-rit, mais us Sö sie xss. Diese freisinnige Prüderie nimmt sich in der That seltsam aus. Wohin in aller Welt gehört denn das Thema? Sind die Abgeordneten nur dazu da, fortwährend in die Lande zu posaune», wie sehr das gesunde Volk unter dem Drucke des kranke» Staates zu leiden habe? Ist es nicht ihre erste und heiligste Pflicht, der Nation auch ihre sittliche» Schäden und Krankheiten rück¬ sichtslos zu Gemüte zu führen, und zwar mit so vernehmlicher Stimme, daß es in alle Lasterhöhlen dringt? Ist es nicht ihre unerläßliche Aufgabe, über Mittel und Wege zu beraten, wie einem gefährlichen Übel, einem schleichenden Gifte im Volkskörper der Garaus zu machen sei? Das Thema gehört nicht nur ins Abgeordnetenhaus, es gehört ans alle Marktplatze, in jede christliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/460>, abgerufen am 26.06.2024.