Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Aus der Stadt des Reichskammergerichts
(Schluß)

ach siebenjährigen Stillstand hielt das Gericht endlich seine erste
öffentliche Sitzung wieder ab - ein unersetzlicher Verlust für
manche Partei: man stelle sich nur vor, daß heutigen Tages das
deutsche Reichsgericht so viele Jahre hindurch seine Thätigkeit
unterbrechen wollte!

Auch für die Bürgerschaft war der Schade groß. Am Sitze des Reichs¬
kammergerichts hatte sich eine Menge von Gewerbtreibenden aller Art nieder¬
gelassen: Schreiber, Sprachlehrer, Tanz- und Fechtmeister, Fuhrleute, Gast¬
wirte, die samt und sonders fast allein von dem Gericht und seinem Anhang
lebten. Am letzten Ende bezog beinahe jeder seine Einkünfte von dem höhern
uns niedern Kammergerichtspersvnal; fast jedes Haus war in ein Gasthaus
umgewandelt, man erkennt das noch hente an den Bezeichnungen zahlreicher
Privathäuser: "zur Quelle," "zum Ring," "zum Löwen" u. s. w. Kein
Gewerbtreibender dachte ernstlich an Arbeit, fiel ihm doch der Gewinn mühelos
in den Schoß. Die Handwerker saßen am frühen Morgen schon in den Wirts¬
häusern, bnmmelten umher und lebten wie der Herrgott in Frankreich. Da
war der Stillstand des Gerichts ein empfindlicher Schlag; denn der ganze
Anhang des Gerichts, die Sollizitanten und die Praktikanten, verschwanden,
und diese hatten das meiste Geld in die Stadt gebracht.

Der Leser wird fragen: Was ist das, ein Sollizitcint und ein Prak¬
tikant? Das im Jahre 1776 erschienene'"Kurzgefaßte Cammerallexikon" giebt,
wie über manche andre beim Reichskammergericht übliche, dein Uneingeweihten
unverständliche Ausdrücke, so auch hierüber Auskunft. Ein Sollizitcint ist der,
der persönlich um Beförderung einer Rechtssache nachsucht. Mit welchen
Mitteln dies hin und wieder geschah, haben wir schon gesehen. In hellen
Scharen kamen die Parteien aus aller Herren Ländern, um ihre Sache vor¬
wärts zu bringen. Die Stadt war oft so voll, daß der Stadtrat den niedrigen
Leuten bei Turmstrafe gebieten mußte, die Stadt zu verlassen, da sie haufen¬
weise auf den Straßen herumlungerten und den Verkehr hemmten. Die
Praktikanten waren nach derselben Quelle die Personen, die sich am Sitze des
Neichskammergerichts aufhielten, "um sich daselbst in ruMi zu üben," in




Aus der Stadt des Reichskammergerichts
(Schluß)

ach siebenjährigen Stillstand hielt das Gericht endlich seine erste
öffentliche Sitzung wieder ab - ein unersetzlicher Verlust für
manche Partei: man stelle sich nur vor, daß heutigen Tages das
deutsche Reichsgericht so viele Jahre hindurch seine Thätigkeit
unterbrechen wollte!

Auch für die Bürgerschaft war der Schade groß. Am Sitze des Reichs¬
kammergerichts hatte sich eine Menge von Gewerbtreibenden aller Art nieder¬
gelassen: Schreiber, Sprachlehrer, Tanz- und Fechtmeister, Fuhrleute, Gast¬
wirte, die samt und sonders fast allein von dem Gericht und seinem Anhang
lebten. Am letzten Ende bezog beinahe jeder seine Einkünfte von dem höhern
uns niedern Kammergerichtspersvnal; fast jedes Haus war in ein Gasthaus
umgewandelt, man erkennt das noch hente an den Bezeichnungen zahlreicher
Privathäuser: „zur Quelle," „zum Ring," „zum Löwen" u. s. w. Kein
Gewerbtreibender dachte ernstlich an Arbeit, fiel ihm doch der Gewinn mühelos
in den Schoß. Die Handwerker saßen am frühen Morgen schon in den Wirts¬
häusern, bnmmelten umher und lebten wie der Herrgott in Frankreich. Da
war der Stillstand des Gerichts ein empfindlicher Schlag; denn der ganze
Anhang des Gerichts, die Sollizitanten und die Praktikanten, verschwanden,
und diese hatten das meiste Geld in die Stadt gebracht.

Der Leser wird fragen: Was ist das, ein Sollizitcint und ein Prak¬
tikant? Das im Jahre 1776 erschienene'„Kurzgefaßte Cammerallexikon" giebt,
wie über manche andre beim Reichskammergericht übliche, dein Uneingeweihten
unverständliche Ausdrücke, so auch hierüber Auskunft. Ein Sollizitcint ist der,
der persönlich um Beförderung einer Rechtssache nachsucht. Mit welchen
Mitteln dies hin und wieder geschah, haben wir schon gesehen. In hellen
Scharen kamen die Parteien aus aller Herren Ländern, um ihre Sache vor¬
wärts zu bringen. Die Stadt war oft so voll, daß der Stadtrat den niedrigen
Leuten bei Turmstrafe gebieten mußte, die Stadt zu verlassen, da sie haufen¬
weise auf den Straßen herumlungerten und den Verkehr hemmten. Die
Praktikanten waren nach derselben Quelle die Personen, die sich am Sitze des
Neichskammergerichts aufhielten, „um sich daselbst in ruMi zu üben," in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0412" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207707"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341851_207294/figures/grenzboten_341851_207294_207707_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Aus der Stadt des Reichskammergerichts<lb/>
(Schluß) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1129"> ach siebenjährigen Stillstand hielt das Gericht endlich seine erste<lb/>
öffentliche Sitzung wieder ab - ein unersetzlicher Verlust für<lb/>
manche Partei: man stelle sich nur vor, daß heutigen Tages das<lb/>
deutsche Reichsgericht so viele Jahre hindurch seine Thätigkeit<lb/>
unterbrechen wollte!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1130"> Auch für die Bürgerschaft war der Schade groß. Am Sitze des Reichs¬<lb/>
kammergerichts hatte sich eine Menge von Gewerbtreibenden aller Art nieder¬<lb/>
gelassen: Schreiber, Sprachlehrer, Tanz- und Fechtmeister, Fuhrleute, Gast¬<lb/>
wirte, die samt und sonders fast allein von dem Gericht und seinem Anhang<lb/>
lebten. Am letzten Ende bezog beinahe jeder seine Einkünfte von dem höhern<lb/>
uns niedern Kammergerichtspersvnal; fast jedes Haus war in ein Gasthaus<lb/>
umgewandelt, man erkennt das noch hente an den Bezeichnungen zahlreicher<lb/>
Privathäuser: &#x201E;zur Quelle," &#x201E;zum Ring," &#x201E;zum Löwen" u. s. w. Kein<lb/>
Gewerbtreibender dachte ernstlich an Arbeit, fiel ihm doch der Gewinn mühelos<lb/>
in den Schoß. Die Handwerker saßen am frühen Morgen schon in den Wirts¬<lb/>
häusern, bnmmelten umher und lebten wie der Herrgott in Frankreich. Da<lb/>
war der Stillstand des Gerichts ein empfindlicher Schlag; denn der ganze<lb/>
Anhang des Gerichts, die Sollizitanten und die Praktikanten, verschwanden,<lb/>
und diese hatten das meiste Geld in die Stadt gebracht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1131" next="#ID_1132"> Der Leser wird fragen: Was ist das, ein Sollizitcint und ein Prak¬<lb/>
tikant? Das im Jahre 1776 erschienene'&#x201E;Kurzgefaßte Cammerallexikon" giebt,<lb/>
wie über manche andre beim Reichskammergericht übliche, dein Uneingeweihten<lb/>
unverständliche Ausdrücke, so auch hierüber Auskunft. Ein Sollizitcint ist der,<lb/>
der persönlich um Beförderung einer Rechtssache nachsucht. Mit welchen<lb/>
Mitteln dies hin und wieder geschah, haben wir schon gesehen. In hellen<lb/>
Scharen kamen die Parteien aus aller Herren Ländern, um ihre Sache vor¬<lb/>
wärts zu bringen. Die Stadt war oft so voll, daß der Stadtrat den niedrigen<lb/>
Leuten bei Turmstrafe gebieten mußte, die Stadt zu verlassen, da sie haufen¬<lb/>
weise auf den Straßen herumlungerten und den Verkehr hemmten. Die<lb/>
Praktikanten waren nach derselben Quelle die Personen, die sich am Sitze des<lb/>
Neichskammergerichts aufhielten, &#x201E;um sich daselbst in ruMi zu üben," in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0412] [Abbildung] Aus der Stadt des Reichskammergerichts (Schluß) ach siebenjährigen Stillstand hielt das Gericht endlich seine erste öffentliche Sitzung wieder ab - ein unersetzlicher Verlust für manche Partei: man stelle sich nur vor, daß heutigen Tages das deutsche Reichsgericht so viele Jahre hindurch seine Thätigkeit unterbrechen wollte! Auch für die Bürgerschaft war der Schade groß. Am Sitze des Reichs¬ kammergerichts hatte sich eine Menge von Gewerbtreibenden aller Art nieder¬ gelassen: Schreiber, Sprachlehrer, Tanz- und Fechtmeister, Fuhrleute, Gast¬ wirte, die samt und sonders fast allein von dem Gericht und seinem Anhang lebten. Am letzten Ende bezog beinahe jeder seine Einkünfte von dem höhern uns niedern Kammergerichtspersvnal; fast jedes Haus war in ein Gasthaus umgewandelt, man erkennt das noch hente an den Bezeichnungen zahlreicher Privathäuser: „zur Quelle," „zum Ring," „zum Löwen" u. s. w. Kein Gewerbtreibender dachte ernstlich an Arbeit, fiel ihm doch der Gewinn mühelos in den Schoß. Die Handwerker saßen am frühen Morgen schon in den Wirts¬ häusern, bnmmelten umher und lebten wie der Herrgott in Frankreich. Da war der Stillstand des Gerichts ein empfindlicher Schlag; denn der ganze Anhang des Gerichts, die Sollizitanten und die Praktikanten, verschwanden, und diese hatten das meiste Geld in die Stadt gebracht. Der Leser wird fragen: Was ist das, ein Sollizitcint und ein Prak¬ tikant? Das im Jahre 1776 erschienene'„Kurzgefaßte Cammerallexikon" giebt, wie über manche andre beim Reichskammergericht übliche, dein Uneingeweihten unverständliche Ausdrücke, so auch hierüber Auskunft. Ein Sollizitcint ist der, der persönlich um Beförderung einer Rechtssache nachsucht. Mit welchen Mitteln dies hin und wieder geschah, haben wir schon gesehen. In hellen Scharen kamen die Parteien aus aller Herren Ländern, um ihre Sache vor¬ wärts zu bringen. Die Stadt war oft so voll, daß der Stadtrat den niedrigen Leuten bei Turmstrafe gebieten mußte, die Stadt zu verlassen, da sie haufen¬ weise auf den Straßen herumlungerten und den Verkehr hemmten. Die Praktikanten waren nach derselben Quelle die Personen, die sich am Sitze des Neichskammergerichts aufhielten, „um sich daselbst in ruMi zu üben," in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/412
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/412>, abgerufen am 26.12.2024.