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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

lente. Der Staatsmann hat nur nach der Stärke und Gesundheit des Volkes
M fragen, mit deren Steigerung sich allerdings die Armut und deren Leiden
von selbst vermindern. Also weder die Bedrohung der Besitzenden durch die
Proletarier, noch das Schicksal der Proletarier ist es, was dem Staatsmanne,
der diesen Namen verdient, Sorge macht, sondern die Frage: Wie ist das
Herabsinken des Volkes in den Schlamm des Proletariats zu verhindern? Wie
ist der Verlumpung des Volkes zu steuern? Diese Frage ist allen Kultur-
staaten gemeinsam. In Italien, England, Frankreich hat die Verlumpung schon
längst begonnen; ob auch in Deutschlnud, das mag einstweilen dahingestellt
bleiben. Schreitet die Zerreibung des gewerblichen Mittelstandes fort wie
bisher, und wird auch der Bauernstand in den Prozeß hineingezogen, so ist
das allmähliche Hinabsinken auch unsers Volkes in proletarische Zustände un¬
ausbleiblich. Man lasse sich nicht durch deu schönen Schein blenden, weil man
bellte nicht mehr deu zehnten Teil so viel zerlumpter Leute auf der Straße
sieht wie vor fünfzig Jahren; das ist der Polizei und der Mode zu danken,
aber nicht dem steigenden Volkswohlstände. "Hat der Mann bei Ihnen ge¬
bettelt?" -- mit diesen Worten stürzte neulich ein pflichteifriger Polizist in einen
Vankierladen hinein, ans dem er einen ärmlich gekleideten Mann herauskommen
gesehen hatte. Der vermeintliche Bettler war -- ein Bauer, der sich etliche
Pfandbriefe gekauft hatte. Von den feinen Herrn und Damen dagegen, die
Man in öffentlichen Gärten sieht, tragen sehr viele ihr ganzes Vermögen auf
dem. Leibe herum, und gar manche nicht einmal ihres, sondern einen Teil des
Vermögens ihres Schneiders, der aber seinerseits auch eigentlich nichts hat,
sondern mit Haut und Haaren dem Schinttwarenkaufmann verschrieben ist u. s. w.,
nicht in ülliiiiwrn, sondern nur bis zu dem kleinen über allen Erdenjammer
erhabenen Kreise der Geueralgläubiger hinauf.

Also dieses ist der Kern der sozialen Frage für den Staatsmann: Wie
ist der Volkswohlstand oder, was dasselbe ist, ein wohlhabender Mittelstand
zu erhalten oder wieder herzustellen, oder was dasselbe ist, wie kaun das Volk
gesund und kräftig erhalten werden? Eine Bevölkerung, die nur noch ans
wenigen sehr Reiche" und einer Musse von Proletariern besteht, verdient gar
uicht mehr den Namen eines Volkes. Mit unsrer Überschau der Heilmittel
knüpfe" wir an die bekannten Schlagwörter an: innere Kolonisation, aus¬
wärtige Kolonisation, Sozialismus, Eingreifen des Staates, Religion und
Kirche.


2

Daß Großstaaten ohne große Städte und ohne großartige Werkstätten
uicht bestehen können, ist ebenso unbestritten, wie die aus solcher Anhäufung
ärmerer Meuscheu entstehenden Gefahren und Übelstünde anerkannt sind. In
Kite'n menschlichen Dingen, die Tugenden uicht ausgenommen, giebt es ein


Die soziale Frage

lente. Der Staatsmann hat nur nach der Stärke und Gesundheit des Volkes
M fragen, mit deren Steigerung sich allerdings die Armut und deren Leiden
von selbst vermindern. Also weder die Bedrohung der Besitzenden durch die
Proletarier, noch das Schicksal der Proletarier ist es, was dem Staatsmanne,
der diesen Namen verdient, Sorge macht, sondern die Frage: Wie ist das
Herabsinken des Volkes in den Schlamm des Proletariats zu verhindern? Wie
ist der Verlumpung des Volkes zu steuern? Diese Frage ist allen Kultur-
staaten gemeinsam. In Italien, England, Frankreich hat die Verlumpung schon
längst begonnen; ob auch in Deutschlnud, das mag einstweilen dahingestellt
bleiben. Schreitet die Zerreibung des gewerblichen Mittelstandes fort wie
bisher, und wird auch der Bauernstand in den Prozeß hineingezogen, so ist
das allmähliche Hinabsinken auch unsers Volkes in proletarische Zustände un¬
ausbleiblich. Man lasse sich nicht durch deu schönen Schein blenden, weil man
bellte nicht mehr deu zehnten Teil so viel zerlumpter Leute auf der Straße
sieht wie vor fünfzig Jahren; das ist der Polizei und der Mode zu danken,
aber nicht dem steigenden Volkswohlstände. „Hat der Mann bei Ihnen ge¬
bettelt?" — mit diesen Worten stürzte neulich ein pflichteifriger Polizist in einen
Vankierladen hinein, ans dem er einen ärmlich gekleideten Mann herauskommen
gesehen hatte. Der vermeintliche Bettler war — ein Bauer, der sich etliche
Pfandbriefe gekauft hatte. Von den feinen Herrn und Damen dagegen, die
Man in öffentlichen Gärten sieht, tragen sehr viele ihr ganzes Vermögen auf
dem. Leibe herum, und gar manche nicht einmal ihres, sondern einen Teil des
Vermögens ihres Schneiders, der aber seinerseits auch eigentlich nichts hat,
sondern mit Haut und Haaren dem Schinttwarenkaufmann verschrieben ist u. s. w.,
nicht in ülliiiiwrn, sondern nur bis zu dem kleinen über allen Erdenjammer
erhabenen Kreise der Geueralgläubiger hinauf.

Also dieses ist der Kern der sozialen Frage für den Staatsmann: Wie
ist der Volkswohlstand oder, was dasselbe ist, ein wohlhabender Mittelstand
zu erhalten oder wieder herzustellen, oder was dasselbe ist, wie kaun das Volk
gesund und kräftig erhalten werden? Eine Bevölkerung, die nur noch ans
wenigen sehr Reiche» und einer Musse von Proletariern besteht, verdient gar
uicht mehr den Namen eines Volkes. Mit unsrer Überschau der Heilmittel
knüpfe» wir an die bekannten Schlagwörter an: innere Kolonisation, aus¬
wärtige Kolonisation, Sozialismus, Eingreifen des Staates, Religion und
Kirche.


2

Daß Großstaaten ohne große Städte und ohne großartige Werkstätten
uicht bestehen können, ist ebenso unbestritten, wie die aus solcher Anhäufung
ärmerer Meuscheu entstehenden Gefahren und Übelstünde anerkannt sind. In
Kite'n menschlichen Dingen, die Tugenden uicht ausgenommen, giebt es ein


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[0367] Die soziale Frage lente. Der Staatsmann hat nur nach der Stärke und Gesundheit des Volkes M fragen, mit deren Steigerung sich allerdings die Armut und deren Leiden von selbst vermindern. Also weder die Bedrohung der Besitzenden durch die Proletarier, noch das Schicksal der Proletarier ist es, was dem Staatsmanne, der diesen Namen verdient, Sorge macht, sondern die Frage: Wie ist das Herabsinken des Volkes in den Schlamm des Proletariats zu verhindern? Wie ist der Verlumpung des Volkes zu steuern? Diese Frage ist allen Kultur- staaten gemeinsam. In Italien, England, Frankreich hat die Verlumpung schon längst begonnen; ob auch in Deutschlnud, das mag einstweilen dahingestellt bleiben. Schreitet die Zerreibung des gewerblichen Mittelstandes fort wie bisher, und wird auch der Bauernstand in den Prozeß hineingezogen, so ist das allmähliche Hinabsinken auch unsers Volkes in proletarische Zustände un¬ ausbleiblich. Man lasse sich nicht durch deu schönen Schein blenden, weil man bellte nicht mehr deu zehnten Teil so viel zerlumpter Leute auf der Straße sieht wie vor fünfzig Jahren; das ist der Polizei und der Mode zu danken, aber nicht dem steigenden Volkswohlstände. „Hat der Mann bei Ihnen ge¬ bettelt?" — mit diesen Worten stürzte neulich ein pflichteifriger Polizist in einen Vankierladen hinein, ans dem er einen ärmlich gekleideten Mann herauskommen gesehen hatte. Der vermeintliche Bettler war — ein Bauer, der sich etliche Pfandbriefe gekauft hatte. Von den feinen Herrn und Damen dagegen, die Man in öffentlichen Gärten sieht, tragen sehr viele ihr ganzes Vermögen auf dem. Leibe herum, und gar manche nicht einmal ihres, sondern einen Teil des Vermögens ihres Schneiders, der aber seinerseits auch eigentlich nichts hat, sondern mit Haut und Haaren dem Schinttwarenkaufmann verschrieben ist u. s. w., nicht in ülliiiiwrn, sondern nur bis zu dem kleinen über allen Erdenjammer erhabenen Kreise der Geueralgläubiger hinauf. Also dieses ist der Kern der sozialen Frage für den Staatsmann: Wie ist der Volkswohlstand oder, was dasselbe ist, ein wohlhabender Mittelstand zu erhalten oder wieder herzustellen, oder was dasselbe ist, wie kaun das Volk gesund und kräftig erhalten werden? Eine Bevölkerung, die nur noch ans wenigen sehr Reiche» und einer Musse von Proletariern besteht, verdient gar uicht mehr den Namen eines Volkes. Mit unsrer Überschau der Heilmittel knüpfe» wir an die bekannten Schlagwörter an: innere Kolonisation, aus¬ wärtige Kolonisation, Sozialismus, Eingreifen des Staates, Religion und Kirche. 2 Daß Großstaaten ohne große Städte und ohne großartige Werkstätten uicht bestehen können, ist ebenso unbestritten, wie die aus solcher Anhäufung ärmerer Meuscheu entstehenden Gefahren und Übelstünde anerkannt sind. In Kite'n menschlichen Dingen, die Tugenden uicht ausgenommen, giebt es ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/367>, abgerufen am 26.06.2024.