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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

das Jahr 1889: "Es ist unverkennbar, daß dnrch die immerwährenden und
des Abends ziemlich lang andauernden Versammlungen der Arbeiter, in denen
sich die Gemüter erhitzen nud durch die der nötige Schlaf verkürzt wird, eine
gewisse Unlust zur Arbeit eintritt, die auf der andern Seite die Forderung
nach verkürzter Arbeitszeit und erhöhtem Lohn mit sich bringt." Wein dieser
Wunsch nach dem Normalarbeitstag in der Arbeiterwelt allgemein zu sein scheint,
für den führen Nur noch aus dem eben genannten Bericht folgenden Satz an:
"Obgleich ältere, erfahrene und meist verheiratete Arbeiter das Verlangen nach
Verkürzung der Arbeitszeit im allgemeinen nicht teilen, so widersprechen sie
doch den andern Arbeitern in den Versammlungen, in denen die Arbeitszeit
behandelt wird, nicht."

Welches Schicksal aber auch die Gesetzesvorlage im Reichstage haben möge,
das eine bleibe unvergessen, daß auch die beste Arbeiterschutzgesetzgebung für das
Wohl des Volkes uicht im entferntesten die Bedeutung hat, wie die großen
svzialreformatvrischen Gesetze, die Bismarck mit unsagbarer Mühe durch jahre¬
lange aufreibende Kämpfe dem Klassen- und Parteiegvismus abzuringen ver¬
mocht hat. Was diese Gesetze für die Welt der armen Leute zu bedeuten
haben, begreift wohl jeder, der erwägt, daß den Arbeitern dnrch Belastung
des Kapitals infolge dieser Gesetze jährlich 400 Millionen Mark zufließen,
d. h. wie Gebiert jüngst in den Grenzboten gezeigt hat, daß ein Kapital
von 11^2 Milliarden durch diese Gesetzgebung den Besitzenden entzogen und den
Armen zugewendet worden ist. Und das ist Vismnrcks Werk: Nonuinönwm,
iuzrs xöreniüu8!




Die soziale Frage
1

s wäre sehr überflüssig, die hunderterlei Übelstände und Schwierig¬
keiten aufzuzählen, deren verfilzten Knäuel wir die soziale Frage
nennen. Jedermann kennt sie. Nur um eine Musterung der
Heilmittel ist es uns hier zu thun. Aber giebt es denn über¬
haupt eine soziale Frage? Der Liberalismus ist geneigt nud
durch feine Theorie eigentlich genötigt, es zu leugnen; da die Welt immer
besser wird, wie kann sie denn da im letzten Jahrhundert in gewisser Be¬
ziehung schlechter geworden sein? Unsre Feuerarbeiter, sagte Laster einmal,


Die soziale Frage

das Jahr 1889: „Es ist unverkennbar, daß dnrch die immerwährenden und
des Abends ziemlich lang andauernden Versammlungen der Arbeiter, in denen
sich die Gemüter erhitzen nud durch die der nötige Schlaf verkürzt wird, eine
gewisse Unlust zur Arbeit eintritt, die auf der andern Seite die Forderung
nach verkürzter Arbeitszeit und erhöhtem Lohn mit sich bringt." Wein dieser
Wunsch nach dem Normalarbeitstag in der Arbeiterwelt allgemein zu sein scheint,
für den führen Nur noch aus dem eben genannten Bericht folgenden Satz an:
„Obgleich ältere, erfahrene und meist verheiratete Arbeiter das Verlangen nach
Verkürzung der Arbeitszeit im allgemeinen nicht teilen, so widersprechen sie
doch den andern Arbeitern in den Versammlungen, in denen die Arbeitszeit
behandelt wird, nicht."

Welches Schicksal aber auch die Gesetzesvorlage im Reichstage haben möge,
das eine bleibe unvergessen, daß auch die beste Arbeiterschutzgesetzgebung für das
Wohl des Volkes uicht im entferntesten die Bedeutung hat, wie die großen
svzialreformatvrischen Gesetze, die Bismarck mit unsagbarer Mühe durch jahre¬
lange aufreibende Kämpfe dem Klassen- und Parteiegvismus abzuringen ver¬
mocht hat. Was diese Gesetze für die Welt der armen Leute zu bedeuten
haben, begreift wohl jeder, der erwägt, daß den Arbeitern dnrch Belastung
des Kapitals infolge dieser Gesetze jährlich 400 Millionen Mark zufließen,
d. h. wie Gebiert jüngst in den Grenzboten gezeigt hat, daß ein Kapital
von 11^2 Milliarden durch diese Gesetzgebung den Besitzenden entzogen und den
Armen zugewendet worden ist. Und das ist Vismnrcks Werk: Nonuinönwm,
iuzrs xöreniüu8!




Die soziale Frage
1

s wäre sehr überflüssig, die hunderterlei Übelstände und Schwierig¬
keiten aufzuzählen, deren verfilzten Knäuel wir die soziale Frage
nennen. Jedermann kennt sie. Nur um eine Musterung der
Heilmittel ist es uns hier zu thun. Aber giebt es denn über¬
haupt eine soziale Frage? Der Liberalismus ist geneigt nud
durch feine Theorie eigentlich genötigt, es zu leugnen; da die Welt immer
besser wird, wie kann sie denn da im letzten Jahrhundert in gewisser Be¬
ziehung schlechter geworden sein? Unsre Feuerarbeiter, sagte Laster einmal,


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[0362] Die soziale Frage das Jahr 1889: „Es ist unverkennbar, daß dnrch die immerwährenden und des Abends ziemlich lang andauernden Versammlungen der Arbeiter, in denen sich die Gemüter erhitzen nud durch die der nötige Schlaf verkürzt wird, eine gewisse Unlust zur Arbeit eintritt, die auf der andern Seite die Forderung nach verkürzter Arbeitszeit und erhöhtem Lohn mit sich bringt." Wein dieser Wunsch nach dem Normalarbeitstag in der Arbeiterwelt allgemein zu sein scheint, für den führen Nur noch aus dem eben genannten Bericht folgenden Satz an: „Obgleich ältere, erfahrene und meist verheiratete Arbeiter das Verlangen nach Verkürzung der Arbeitszeit im allgemeinen nicht teilen, so widersprechen sie doch den andern Arbeitern in den Versammlungen, in denen die Arbeitszeit behandelt wird, nicht." Welches Schicksal aber auch die Gesetzesvorlage im Reichstage haben möge, das eine bleibe unvergessen, daß auch die beste Arbeiterschutzgesetzgebung für das Wohl des Volkes uicht im entferntesten die Bedeutung hat, wie die großen svzialreformatvrischen Gesetze, die Bismarck mit unsagbarer Mühe durch jahre¬ lange aufreibende Kämpfe dem Klassen- und Parteiegvismus abzuringen ver¬ mocht hat. Was diese Gesetze für die Welt der armen Leute zu bedeuten haben, begreift wohl jeder, der erwägt, daß den Arbeitern dnrch Belastung des Kapitals infolge dieser Gesetze jährlich 400 Millionen Mark zufließen, d. h. wie Gebiert jüngst in den Grenzboten gezeigt hat, daß ein Kapital von 11^2 Milliarden durch diese Gesetzgebung den Besitzenden entzogen und den Armen zugewendet worden ist. Und das ist Vismnrcks Werk: Nonuinönwm, iuzrs xöreniüu8! Die soziale Frage 1 s wäre sehr überflüssig, die hunderterlei Übelstände und Schwierig¬ keiten aufzuzählen, deren verfilzten Knäuel wir die soziale Frage nennen. Jedermann kennt sie. Nur um eine Musterung der Heilmittel ist es uns hier zu thun. Aber giebt es denn über¬ haupt eine soziale Frage? Der Liberalismus ist geneigt nud durch feine Theorie eigentlich genötigt, es zu leugnen; da die Welt immer besser wird, wie kann sie denn da im letzten Jahrhundert in gewisser Be¬ ziehung schlechter geworden sein? Unsre Feuerarbeiter, sagte Laster einmal,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/362>, abgerufen am 26.06.2024.