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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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E>ne Reichstagsphciutasie

die Staudeswählerschaft die Grundlage bildeten, so könnten sie sich nur schwer
zu der Einseitigkeit und der Festigkeit der jetzigen Parteien verdichten. Die
Regierung, der das leidige Parteigezäuk abgenommen oder doch vermindert
wäre, hatte eine unvergleichlich leichtere und klarere Stellung, im Ackerbaner¬
und Beamtenstnude auch von vornherein zwei konservativere Gruppen. Freilich
wurden jetzt die Standesrücksichten auf einander stoßen; eine Sache, die den
Kaufleuten genehm wäre, konnten die Ackerbauer für sich als gefährlich erachten;
aber immer blieben noch zwei andre Stände, die nach Anhören des Für und
Wider die Entscheidung mit Rücksicht ans das allgemein Bessere geben könnten.
Daß die Stände ganz geschlossen stimmten und dadurch zwei gegen zwei stünden,
würde nicht oft zu erwarten sein; wenn es geschähe, nun so wäre der Antrag
abgelehnt.

Dann kämen auch die zwei Grundübel des jetzigen parlamentarischen
Systems in Wegfall oder würden doch gemildert: die Wahlumtriebe und das
Preßuuweseu. Die Wnhlumtriebe schon deshalb, weil die Abteilungen kleiner,
die Verhältnisse vereinfacht und die in Betracht kommende Person bekannter,
der Einzelwähler also imstande wäre, sich still ein Urteil zu bilden,
was doch erste Bedingung sein sollte. Die Erschütterungen von Ruhe und
Ordnung, die neuerdings die Wahl gebracht hat, würden aufhören mit der
geringer entfachten Leidenschaft. Durch die Standesvertretnng erhielte das
ganze parlamentarische Denkwesen einen andern Gang; an die Stelle der Partei¬
bestrebungen träte die nach Gewerbegruppen, an die Stelle der politischen Er¬
wägung die soziale. Die jetzige Parteieinseitigkeit wäre durchkreuzt und mit
ihr der Geist jener entsetzlichen Lügenhaftigkeit, der unser ganzes Volksleben
bereits durchtränkt hat. Will der Kaufmann oder Beamte als solcher etwas,
so hat man etwas Greifbares in den Händen, will es aber ein Fortschrittler
oder Konservativer, so liegt von vornherein das Parteiwesen in der Sache.

Auch die Gefahr der Sozialdemokratie mit ihrem Gegensatze von Armen
und Besitzenden würde nicht mehr zu befürchten sein, weil nun beide Teile in
derselben Gruppe stimmten, und schließlich ein Arbeiter sich viel leichter gefallen
läßt, wenn sein Fabrikherr als Fachvertreter in den Reichstag kommt, als
wenn er es als Reicher vor dem Armen thut; und umgekehrt der Arbeiter:
als Standesgenvsse wird er viel eher das gemeinsame Interesse wahren,
wie als Sozialdemokrnt vor dem Liberalen. Das Wahlalter und die Wühler¬
zahl bliebe erhalten, und damit wäre eine Hauptschwierigkeit etwaiger Reformen
beseitigt, denn die im Besitz befindlichen brauchten nichts aufzugeben. Ferner
fiele das sich vordrängende semitische Element weg, teils nur vertreten dnrch
wirkliche Juden oder durch solche, die es zu sein verdienten.

Mancher wird sagen: Das klingt alles recht gut und schön, aber wie es
einführen? der Wahlmodus ist nicht scharf genug, weil viele Menschen zwei
oder gar drei Gewerbe zugleich treiben, und dann: unsre Verfassung ist gnrantirt.


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E>ne Reichstagsphciutasie

die Staudeswählerschaft die Grundlage bildeten, so könnten sie sich nur schwer
zu der Einseitigkeit und der Festigkeit der jetzigen Parteien verdichten. Die
Regierung, der das leidige Parteigezäuk abgenommen oder doch vermindert
wäre, hatte eine unvergleichlich leichtere und klarere Stellung, im Ackerbaner¬
und Beamtenstnude auch von vornherein zwei konservativere Gruppen. Freilich
wurden jetzt die Standesrücksichten auf einander stoßen; eine Sache, die den
Kaufleuten genehm wäre, konnten die Ackerbauer für sich als gefährlich erachten;
aber immer blieben noch zwei andre Stände, die nach Anhören des Für und
Wider die Entscheidung mit Rücksicht ans das allgemein Bessere geben könnten.
Daß die Stände ganz geschlossen stimmten und dadurch zwei gegen zwei stünden,
würde nicht oft zu erwarten sein; wenn es geschähe, nun so wäre der Antrag
abgelehnt.

Dann kämen auch die zwei Grundübel des jetzigen parlamentarischen
Systems in Wegfall oder würden doch gemildert: die Wahlumtriebe und das
Preßuuweseu. Die Wnhlumtriebe schon deshalb, weil die Abteilungen kleiner,
die Verhältnisse vereinfacht und die in Betracht kommende Person bekannter,
der Einzelwähler also imstande wäre, sich still ein Urteil zu bilden,
was doch erste Bedingung sein sollte. Die Erschütterungen von Ruhe und
Ordnung, die neuerdings die Wahl gebracht hat, würden aufhören mit der
geringer entfachten Leidenschaft. Durch die Standesvertretnng erhielte das
ganze parlamentarische Denkwesen einen andern Gang; an die Stelle der Partei¬
bestrebungen träte die nach Gewerbegruppen, an die Stelle der politischen Er¬
wägung die soziale. Die jetzige Parteieinseitigkeit wäre durchkreuzt und mit
ihr der Geist jener entsetzlichen Lügenhaftigkeit, der unser ganzes Volksleben
bereits durchtränkt hat. Will der Kaufmann oder Beamte als solcher etwas,
so hat man etwas Greifbares in den Händen, will es aber ein Fortschrittler
oder Konservativer, so liegt von vornherein das Parteiwesen in der Sache.

Auch die Gefahr der Sozialdemokratie mit ihrem Gegensatze von Armen
und Besitzenden würde nicht mehr zu befürchten sein, weil nun beide Teile in
derselben Gruppe stimmten, und schließlich ein Arbeiter sich viel leichter gefallen
läßt, wenn sein Fabrikherr als Fachvertreter in den Reichstag kommt, als
wenn er es als Reicher vor dem Armen thut; und umgekehrt der Arbeiter:
als Standesgenvsse wird er viel eher das gemeinsame Interesse wahren,
wie als Sozialdemokrnt vor dem Liberalen. Das Wahlalter und die Wühler¬
zahl bliebe erhalten, und damit wäre eine Hauptschwierigkeit etwaiger Reformen
beseitigt, denn die im Besitz befindlichen brauchten nichts aufzugeben. Ferner
fiele das sich vordrängende semitische Element weg, teils nur vertreten dnrch
wirkliche Juden oder durch solche, die es zu sein verdienten.

Mancher wird sagen: Das klingt alles recht gut und schön, aber wie es
einführen? der Wahlmodus ist nicht scharf genug, weil viele Menschen zwei
oder gar drei Gewerbe zugleich treiben, und dann: unsre Verfassung ist gnrantirt.


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[0022] E>ne Reichstagsphciutasie die Staudeswählerschaft die Grundlage bildeten, so könnten sie sich nur schwer zu der Einseitigkeit und der Festigkeit der jetzigen Parteien verdichten. Die Regierung, der das leidige Parteigezäuk abgenommen oder doch vermindert wäre, hatte eine unvergleichlich leichtere und klarere Stellung, im Ackerbaner¬ und Beamtenstnude auch von vornherein zwei konservativere Gruppen. Freilich wurden jetzt die Standesrücksichten auf einander stoßen; eine Sache, die den Kaufleuten genehm wäre, konnten die Ackerbauer für sich als gefährlich erachten; aber immer blieben noch zwei andre Stände, die nach Anhören des Für und Wider die Entscheidung mit Rücksicht ans das allgemein Bessere geben könnten. Daß die Stände ganz geschlossen stimmten und dadurch zwei gegen zwei stünden, würde nicht oft zu erwarten sein; wenn es geschähe, nun so wäre der Antrag abgelehnt. Dann kämen auch die zwei Grundübel des jetzigen parlamentarischen Systems in Wegfall oder würden doch gemildert: die Wahlumtriebe und das Preßuuweseu. Die Wnhlumtriebe schon deshalb, weil die Abteilungen kleiner, die Verhältnisse vereinfacht und die in Betracht kommende Person bekannter, der Einzelwähler also imstande wäre, sich still ein Urteil zu bilden, was doch erste Bedingung sein sollte. Die Erschütterungen von Ruhe und Ordnung, die neuerdings die Wahl gebracht hat, würden aufhören mit der geringer entfachten Leidenschaft. Durch die Standesvertretnng erhielte das ganze parlamentarische Denkwesen einen andern Gang; an die Stelle der Partei¬ bestrebungen träte die nach Gewerbegruppen, an die Stelle der politischen Er¬ wägung die soziale. Die jetzige Parteieinseitigkeit wäre durchkreuzt und mit ihr der Geist jener entsetzlichen Lügenhaftigkeit, der unser ganzes Volksleben bereits durchtränkt hat. Will der Kaufmann oder Beamte als solcher etwas, so hat man etwas Greifbares in den Händen, will es aber ein Fortschrittler oder Konservativer, so liegt von vornherein das Parteiwesen in der Sache. Auch die Gefahr der Sozialdemokratie mit ihrem Gegensatze von Armen und Besitzenden würde nicht mehr zu befürchten sein, weil nun beide Teile in derselben Gruppe stimmten, und schließlich ein Arbeiter sich viel leichter gefallen läßt, wenn sein Fabrikherr als Fachvertreter in den Reichstag kommt, als wenn er es als Reicher vor dem Armen thut; und umgekehrt der Arbeiter: als Standesgenvsse wird er viel eher das gemeinsame Interesse wahren, wie als Sozialdemokrnt vor dem Liberalen. Das Wahlalter und die Wühler¬ zahl bliebe erhalten, und damit wäre eine Hauptschwierigkeit etwaiger Reformen beseitigt, denn die im Besitz befindlichen brauchten nichts aufzugeben. Ferner fiele das sich vordrängende semitische Element weg, teils nur vertreten dnrch wirkliche Juden oder durch solche, die es zu sein verdienten. Mancher wird sagen: Das klingt alles recht gut und schön, aber wie es einführen? der Wahlmodus ist nicht scharf genug, weil viele Menschen zwei oder gar drei Gewerbe zugleich treiben, und dann: unsre Verfassung ist gnrantirt. 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/22>, abgerufen am 26.06.2024.