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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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"Line Reichstcigsphantasie

Auf das erste ist zu erwidern: Deu Leuten, die mehrere Gewerbe treiben,
läßt man die Wahl, in die Gruppe einzutreten, die sie für ihr Hauptgewerbe
halten. Der Trieb der Selbsterhaltung wird sie ziemlich regelmäßig in die
richtige Klasse führen. Hat z. B. der Handwerker einer Kleinstadt zugleich
einen Acker, so wird er sich schwerlich in deu Unterstand eintragen lassen, weil
für ihn die Handwerksberatungen wichtiger sind. Das Umgekehrte wird der
Fall sein, wenn ein Gutsbesitzer eine Brennerei oder dergleichen auf seinem
Hofe hat, er also Ackerbauer, Handwerker und Kaufmann zugleich ist; da wird
er ganz genau wissen, was für ihn entscheidend wirkt, der Acker- oder der
Fabrikertrag. Wirklich falsche Angaben ließen sich durch eine Vertrauens-
münnerkvmmissivn verbessern. Fabrikarbeiter, Erdarbeiter ". dergl. siud natür¬
lich den Handwerkern beizuzählen; Ärzte, Advokaten ?c. den Beamte". Rentiers
bleiben in dem Gewerbe, das sie emporgebracht hat, u. dergl. in. Bei
ernstem Willen wären hier keine besondern Schwierigkeiten.

Und die garnntirte Verfassung? Ja, damit ist es ein eigen Ding. Be¬
tonte man sie einseitig, so machte man jede Weiterentwicklung unmöglich. Außer¬
dem muß eine Verfassung von beiden Teilen gehalten werden; in der letzten Zeit
hat es aber nnr die Regierung gethan, während die Wnhlumtriebe, Wcchl-
beeinflnssungen und Vergewaltigungen thatsächlicher Verfassuugsbruch siud.
Man könnte es also der Regierung uicht übel nehmen, wenn sie sagte: ich habe
hier kein gesetzlich gewähltes Parlament vor mir und sehe mich deshalb auch
meinerseits nicht veranlaßt, gesetzlicher als ein großer Teil der Wähler zu
sein. Doch dies wäre zunächst gnr nicht nötig. Truhen eine würdige Presse,
ernstdeutende Parlamentarier und ruhige Männer die Einleitung, durchdränge
erst das Volk der Gedanke: das jetzige System ist vom Übel, die Volksver-
tretung vertritt mich gar nicht, die Regierung bietet mir Besseres und natur¬
gemäßeres, so könnte diese den Antrag aus Änderung der Wahleinrichtung im
Reichstage stellen, wie seinerzeit die französische deu auf Listeuskrutininm.
Lehnte der Reichstag ab, so würde er "ach Hause geschickt und ein neuer
gewählt, in dem voraussichtlich schon eine größere Neigung für die Regierungs¬
vorlage herrschen würde. Er stimmte zu oder nutzte sich ebenfalls ab.
Würde dann wieder bei der Wahl vergewaltigt, so hätte unsers Dafürhaltens
die Regierung das unzweifelhafte Recht, es ebenso zu machen und, wenn sie
es für die unfreie nud beeinflußte Wählermasse, für Volk und Staat für gut
hält, den neuen Wahlmodus einfach zu dekretiren. Viele, vielleicht die Mehr¬
zahl, würde" nicht wählen, viele aber würden es thun; die Vertrauensmänner
träten in dem neuen Reichstage zusammen, dem die Regierung nachträgliche
Genehmigung des Geschehenen vorlegte, die sie auch erhalten würde kraft des
Selbsterhaltungstriebes der Gewählleu. Beide Teile, die frühern Wähler und die
Regierung, könnten sich alsdann nicht viel vorwerfen; man wäre beiderseits
von der Verfassung abgewichen, und überdies hätten nnr die Wähler ihre


«Line Reichstcigsphantasie

Auf das erste ist zu erwidern: Deu Leuten, die mehrere Gewerbe treiben,
läßt man die Wahl, in die Gruppe einzutreten, die sie für ihr Hauptgewerbe
halten. Der Trieb der Selbsterhaltung wird sie ziemlich regelmäßig in die
richtige Klasse führen. Hat z. B. der Handwerker einer Kleinstadt zugleich
einen Acker, so wird er sich schwerlich in deu Unterstand eintragen lassen, weil
für ihn die Handwerksberatungen wichtiger sind. Das Umgekehrte wird der
Fall sein, wenn ein Gutsbesitzer eine Brennerei oder dergleichen auf seinem
Hofe hat, er also Ackerbauer, Handwerker und Kaufmann zugleich ist; da wird
er ganz genau wissen, was für ihn entscheidend wirkt, der Acker- oder der
Fabrikertrag. Wirklich falsche Angaben ließen sich durch eine Vertrauens-
münnerkvmmissivn verbessern. Fabrikarbeiter, Erdarbeiter ». dergl. siud natür¬
lich den Handwerkern beizuzählen; Ärzte, Advokaten ?c. den Beamte». Rentiers
bleiben in dem Gewerbe, das sie emporgebracht hat, u. dergl. in. Bei
ernstem Willen wären hier keine besondern Schwierigkeiten.

Und die garnntirte Verfassung? Ja, damit ist es ein eigen Ding. Be¬
tonte man sie einseitig, so machte man jede Weiterentwicklung unmöglich. Außer¬
dem muß eine Verfassung von beiden Teilen gehalten werden; in der letzten Zeit
hat es aber nnr die Regierung gethan, während die Wnhlumtriebe, Wcchl-
beeinflnssungen und Vergewaltigungen thatsächlicher Verfassuugsbruch siud.
Man könnte es also der Regierung uicht übel nehmen, wenn sie sagte: ich habe
hier kein gesetzlich gewähltes Parlament vor mir und sehe mich deshalb auch
meinerseits nicht veranlaßt, gesetzlicher als ein großer Teil der Wähler zu
sein. Doch dies wäre zunächst gnr nicht nötig. Truhen eine würdige Presse,
ernstdeutende Parlamentarier und ruhige Männer die Einleitung, durchdränge
erst das Volk der Gedanke: das jetzige System ist vom Übel, die Volksver-
tretung vertritt mich gar nicht, die Regierung bietet mir Besseres und natur¬
gemäßeres, so könnte diese den Antrag aus Änderung der Wahleinrichtung im
Reichstage stellen, wie seinerzeit die französische deu auf Listeuskrutininm.
Lehnte der Reichstag ab, so würde er »ach Hause geschickt und ein neuer
gewählt, in dem voraussichtlich schon eine größere Neigung für die Regierungs¬
vorlage herrschen würde. Er stimmte zu oder nutzte sich ebenfalls ab.
Würde dann wieder bei der Wahl vergewaltigt, so hätte unsers Dafürhaltens
die Regierung das unzweifelhafte Recht, es ebenso zu machen und, wenn sie
es für die unfreie nud beeinflußte Wählermasse, für Volk und Staat für gut
hält, den neuen Wahlmodus einfach zu dekretiren. Viele, vielleicht die Mehr¬
zahl, würde» nicht wählen, viele aber würden es thun; die Vertrauensmänner
träten in dem neuen Reichstage zusammen, dem die Regierung nachträgliche
Genehmigung des Geschehenen vorlegte, die sie auch erhalten würde kraft des
Selbsterhaltungstriebes der Gewählleu. Beide Teile, die frühern Wähler und die
Regierung, könnten sich alsdann nicht viel vorwerfen; man wäre beiderseits
von der Verfassung abgewichen, und überdies hätten nnr die Wähler ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/23>, abgerufen am 27.12.2024.