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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Nach den Reichstagsrvahlen
von A. Gebiert

s ist Fastenzeit, und unser liebes Deutschland hat es sich nicht
nehmen lassen, einen Fastnachtsscherz im Großen aufzuführen.
Die Anzahl der sozialdemokratischen Stimmen ist wahrscheinlich
mindestens auf das Doppelte gestiegen, und zwar -- wie z. B.
die Wahl in Chemnitz") deutlich genug zeigt -- nicht allein durch
überzeugte Sozialdemokraten, sondern mehr noch durch allerhand Leute, denen
in ihrer Person, ihrem Gewerbe, ihrer Partei, ihrer Gesellschaftsklasse die
gegenwärtige Reichspolitik wider den Strich geht und die ihrer Unzufriedenheit
durch die Abgabe des sozialdemokratischen Stimmzettels den wirksamsten Aus¬
druck geben zu können glaubten. Diese Opposition wider eine patriotische und
erleuchtete Regierung stürzte ihre Träger zunächst nicht in große eigne Un¬
kosten. Mögen nur ihnen und uns die nicht bedachten notwendigen Folgen
einer solchen Tapferkeit vom Westen her nicht zu zeitig deutlich gemacht
werden!

Was an dein Vorgänge Erscheinung, d. h. von vorübergehender Wirkung
ist, hat für die Erkenntnis geringe Bedeutung. Die Erscheinungen wandeln
sich unaufhörlich und in unendlicher Mannichfaltigkeit; nur gewisse Ursachen
dazu sind dauernd, weil sie aus der Ewigkeit stammen. Mit diesen Ursachen,
ihrer Bedeutung für die seitherige staatliche Entwicklung und unsern heutigen
zivilisatorischer Aufgaben haben es die folgenden Bemerkungen allein zu thun.

Mit dem Staate wollen wir lediglich auf eins hinaus, auf die Freiheit.
Aber obwohl jedermann das Wort Freiheit im Munde führt, als ob er über
die damit gemeinte Sache völlig im Klaren wäre, hat wohl unter hundert



*) Der Verfasser ist sächsischer Reichswgsabgeordneter.
Grenzboten I 1890 62


Nach den Reichstagsrvahlen
von A. Gebiert

s ist Fastenzeit, und unser liebes Deutschland hat es sich nicht
nehmen lassen, einen Fastnachtsscherz im Großen aufzuführen.
Die Anzahl der sozialdemokratischen Stimmen ist wahrscheinlich
mindestens auf das Doppelte gestiegen, und zwar — wie z. B.
die Wahl in Chemnitz") deutlich genug zeigt — nicht allein durch
überzeugte Sozialdemokraten, sondern mehr noch durch allerhand Leute, denen
in ihrer Person, ihrem Gewerbe, ihrer Partei, ihrer Gesellschaftsklasse die
gegenwärtige Reichspolitik wider den Strich geht und die ihrer Unzufriedenheit
durch die Abgabe des sozialdemokratischen Stimmzettels den wirksamsten Aus¬
druck geben zu können glaubten. Diese Opposition wider eine patriotische und
erleuchtete Regierung stürzte ihre Träger zunächst nicht in große eigne Un¬
kosten. Mögen nur ihnen und uns die nicht bedachten notwendigen Folgen
einer solchen Tapferkeit vom Westen her nicht zu zeitig deutlich gemacht
werden!

Was an dein Vorgänge Erscheinung, d. h. von vorübergehender Wirkung
ist, hat für die Erkenntnis geringe Bedeutung. Die Erscheinungen wandeln
sich unaufhörlich und in unendlicher Mannichfaltigkeit; nur gewisse Ursachen
dazu sind dauernd, weil sie aus der Ewigkeit stammen. Mit diesen Ursachen,
ihrer Bedeutung für die seitherige staatliche Entwicklung und unsern heutigen
zivilisatorischer Aufgaben haben es die folgenden Bemerkungen allein zu thun.

Mit dem Staate wollen wir lediglich auf eins hinaus, auf die Freiheit.
Aber obwohl jedermann das Wort Freiheit im Munde führt, als ob er über
die damit gemeinte Sache völlig im Klaren wäre, hat wohl unter hundert



*) Der Verfasser ist sächsischer Reichswgsabgeordneter.
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[0497] [Abbildung] Nach den Reichstagsrvahlen von A. Gebiert s ist Fastenzeit, und unser liebes Deutschland hat es sich nicht nehmen lassen, einen Fastnachtsscherz im Großen aufzuführen. Die Anzahl der sozialdemokratischen Stimmen ist wahrscheinlich mindestens auf das Doppelte gestiegen, und zwar — wie z. B. die Wahl in Chemnitz") deutlich genug zeigt — nicht allein durch überzeugte Sozialdemokraten, sondern mehr noch durch allerhand Leute, denen in ihrer Person, ihrem Gewerbe, ihrer Partei, ihrer Gesellschaftsklasse die gegenwärtige Reichspolitik wider den Strich geht und die ihrer Unzufriedenheit durch die Abgabe des sozialdemokratischen Stimmzettels den wirksamsten Aus¬ druck geben zu können glaubten. Diese Opposition wider eine patriotische und erleuchtete Regierung stürzte ihre Träger zunächst nicht in große eigne Un¬ kosten. Mögen nur ihnen und uns die nicht bedachten notwendigen Folgen einer solchen Tapferkeit vom Westen her nicht zu zeitig deutlich gemacht werden! Was an dein Vorgänge Erscheinung, d. h. von vorübergehender Wirkung ist, hat für die Erkenntnis geringe Bedeutung. Die Erscheinungen wandeln sich unaufhörlich und in unendlicher Mannichfaltigkeit; nur gewisse Ursachen dazu sind dauernd, weil sie aus der Ewigkeit stammen. Mit diesen Ursachen, ihrer Bedeutung für die seitherige staatliche Entwicklung und unsern heutigen zivilisatorischer Aufgaben haben es die folgenden Bemerkungen allein zu thun. Mit dem Staate wollen wir lediglich auf eins hinaus, auf die Freiheit. Aber obwohl jedermann das Wort Freiheit im Munde führt, als ob er über die damit gemeinte Sache völlig im Klaren wäre, hat wohl unter hundert *) Der Verfasser ist sächsischer Reichswgsabgeordneter. Grenzboten I 1890 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/497>, abgerufen am 23.07.2024.