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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Nach den Reichstagswahlen

Manschen kaum einer auch nur einmal gründlich darüber nachgedacht. Man
meint, Freiheit decke sich mit dem Umfange der eignen Kraft; jemand könne
thun, was er wolle, ohne durch etwas andres, als wieder nur durch einen
einzelnen Menschen oder ein andres natürliches Ding gehemmt zu werden, die
staatliche Einwirkung ans das einzelne Thu" sei die unzulässige Aufhebung der
Freiheit. Aber diese Art an sich schrankenloser persönlicher Freiheit hat nnr
das Schlimme, daß sie in dem Maße, wie sie schrankenlos ist, die Unter¬
drückung andrer herbeiführt. So war die Freiheit des Feudalherrn im Mittel¬
alter die Unterdrückung des Bauern in dein Grade, wie sie schrankenlos war,
so ist die Freiheit des Geldbesitzers in unsern Tagen die Unterdrückung des
Armen in dem Grade, wie sie schrankenlos ist. Denn sie ist ja immer nnr
bei dem Starken, niemals bei dein Schwachen, und ist weiter nichts als jene
sogenannte, vermeintliche Freiheit in der Natur, die die Mans so lange genießt,
bis sie von der Katze gefressen wird. Was man also hier mit dem Worte
Freiheit ausdrückt, ist überhaupt keine Freiheit, sondern reine Gewalt, und
weil es in der Natur keine Gewalt giebt, die nicht immer wieder von einer
andern größern Gewalt unterjocht würde, so kann es in der Natur und mithin
anch für den Menschen im Naturzustände gar keine Freiheit geben.

Die Freiheit, die nur Menschen suchen, nämlich das gnadenspendende
Himmelskind, das die Schläfe nicht bloß des Starken, sondern anch des
Schwachen küßt, kann nur erreicht werden, wenn der Einzelne seine angebornen
geistigen und körperlichen Kräfte, seine natürliche, an sich schrankenlose Gewalt
nicht schrankenlos, sondern nur so weit geltend machen darf, als andre damit
nicht unterdrückt werden, wenn er also in den Dienst der Allgemeinheit gestellt
ist und seinen Nutzen nur als Anteil am Nutzen aller suchen darf.

Wenn nun die Menschen nach der Vernunft lebten, so würden sie das
alles freiwillig thun und glücklich sein. Da sie aber nicht nach der Vernunft
leben, sondern nach ihren Leidenschaften und einander mehr Feind als Freund
sind, da jeder, unbekümmert um den andern, ja wider den andern nur auf
seinen eignen Nutzen bedacht ist, so müssen sie von außen bestimmt werden,
ihre Handlungen so einzurichten, wie sie innerhalb der Gesamtheit nützlich oder
doch erträglich sind.

Hierzu giebt es zwei Mittel: die Überredung und die Gewalt.

Die Überredung ist das Mittel der Kirche und der Schule. Aber leider
steht es mit seinem Erfolg bei der Unvernunft der Menschen schlimm genng.
Die christliche Kirche ist wie ihrer Lehre: "Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst" seit zweitausend Jahren mit Eifer und Aufopferung am Werke. Aber
sie hat bis jetzt wenig erreicht. Jeder, der die Dinge gründlich und ohne
Vorurteil betrachtet, wird zugeben, daß mindestens unser gesamtes Gewerbe¬
leben, obgleich es um zahlreiche christliche Tempel angesiedelt ist, noch immer
rein heidnischen und keinen christlichen Geist atmet, daß darin das "Liebe


Nach den Reichstagswahlen

Manschen kaum einer auch nur einmal gründlich darüber nachgedacht. Man
meint, Freiheit decke sich mit dem Umfange der eignen Kraft; jemand könne
thun, was er wolle, ohne durch etwas andres, als wieder nur durch einen
einzelnen Menschen oder ein andres natürliches Ding gehemmt zu werden, die
staatliche Einwirkung ans das einzelne Thu» sei die unzulässige Aufhebung der
Freiheit. Aber diese Art an sich schrankenloser persönlicher Freiheit hat nnr
das Schlimme, daß sie in dem Maße, wie sie schrankenlos ist, die Unter¬
drückung andrer herbeiführt. So war die Freiheit des Feudalherrn im Mittel¬
alter die Unterdrückung des Bauern in dein Grade, wie sie schrankenlos war,
so ist die Freiheit des Geldbesitzers in unsern Tagen die Unterdrückung des
Armen in dem Grade, wie sie schrankenlos ist. Denn sie ist ja immer nnr
bei dem Starken, niemals bei dein Schwachen, und ist weiter nichts als jene
sogenannte, vermeintliche Freiheit in der Natur, die die Mans so lange genießt,
bis sie von der Katze gefressen wird. Was man also hier mit dem Worte
Freiheit ausdrückt, ist überhaupt keine Freiheit, sondern reine Gewalt, und
weil es in der Natur keine Gewalt giebt, die nicht immer wieder von einer
andern größern Gewalt unterjocht würde, so kann es in der Natur und mithin
anch für den Menschen im Naturzustände gar keine Freiheit geben.

Die Freiheit, die nur Menschen suchen, nämlich das gnadenspendende
Himmelskind, das die Schläfe nicht bloß des Starken, sondern anch des
Schwachen küßt, kann nur erreicht werden, wenn der Einzelne seine angebornen
geistigen und körperlichen Kräfte, seine natürliche, an sich schrankenlose Gewalt
nicht schrankenlos, sondern nur so weit geltend machen darf, als andre damit
nicht unterdrückt werden, wenn er also in den Dienst der Allgemeinheit gestellt
ist und seinen Nutzen nur als Anteil am Nutzen aller suchen darf.

Wenn nun die Menschen nach der Vernunft lebten, so würden sie das
alles freiwillig thun und glücklich sein. Da sie aber nicht nach der Vernunft
leben, sondern nach ihren Leidenschaften und einander mehr Feind als Freund
sind, da jeder, unbekümmert um den andern, ja wider den andern nur auf
seinen eignen Nutzen bedacht ist, so müssen sie von außen bestimmt werden,
ihre Handlungen so einzurichten, wie sie innerhalb der Gesamtheit nützlich oder
doch erträglich sind.

Hierzu giebt es zwei Mittel: die Überredung und die Gewalt.

Die Überredung ist das Mittel der Kirche und der Schule. Aber leider
steht es mit seinem Erfolg bei der Unvernunft der Menschen schlimm genng.
Die christliche Kirche ist wie ihrer Lehre: „Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst" seit zweitausend Jahren mit Eifer und Aufopferung am Werke. Aber
sie hat bis jetzt wenig erreicht. Jeder, der die Dinge gründlich und ohne
Vorurteil betrachtet, wird zugeben, daß mindestens unser gesamtes Gewerbe¬
leben, obgleich es um zahlreiche christliche Tempel angesiedelt ist, noch immer
rein heidnischen und keinen christlichen Geist atmet, daß darin das „Liebe


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[0498] Nach den Reichstagswahlen Manschen kaum einer auch nur einmal gründlich darüber nachgedacht. Man meint, Freiheit decke sich mit dem Umfange der eignen Kraft; jemand könne thun, was er wolle, ohne durch etwas andres, als wieder nur durch einen einzelnen Menschen oder ein andres natürliches Ding gehemmt zu werden, die staatliche Einwirkung ans das einzelne Thu» sei die unzulässige Aufhebung der Freiheit. Aber diese Art an sich schrankenloser persönlicher Freiheit hat nnr das Schlimme, daß sie in dem Maße, wie sie schrankenlos ist, die Unter¬ drückung andrer herbeiführt. So war die Freiheit des Feudalherrn im Mittel¬ alter die Unterdrückung des Bauern in dein Grade, wie sie schrankenlos war, so ist die Freiheit des Geldbesitzers in unsern Tagen die Unterdrückung des Armen in dem Grade, wie sie schrankenlos ist. Denn sie ist ja immer nnr bei dem Starken, niemals bei dein Schwachen, und ist weiter nichts als jene sogenannte, vermeintliche Freiheit in der Natur, die die Mans so lange genießt, bis sie von der Katze gefressen wird. Was man also hier mit dem Worte Freiheit ausdrückt, ist überhaupt keine Freiheit, sondern reine Gewalt, und weil es in der Natur keine Gewalt giebt, die nicht immer wieder von einer andern größern Gewalt unterjocht würde, so kann es in der Natur und mithin anch für den Menschen im Naturzustände gar keine Freiheit geben. Die Freiheit, die nur Menschen suchen, nämlich das gnadenspendende Himmelskind, das die Schläfe nicht bloß des Starken, sondern anch des Schwachen küßt, kann nur erreicht werden, wenn der Einzelne seine angebornen geistigen und körperlichen Kräfte, seine natürliche, an sich schrankenlose Gewalt nicht schrankenlos, sondern nur so weit geltend machen darf, als andre damit nicht unterdrückt werden, wenn er also in den Dienst der Allgemeinheit gestellt ist und seinen Nutzen nur als Anteil am Nutzen aller suchen darf. Wenn nun die Menschen nach der Vernunft lebten, so würden sie das alles freiwillig thun und glücklich sein. Da sie aber nicht nach der Vernunft leben, sondern nach ihren Leidenschaften und einander mehr Feind als Freund sind, da jeder, unbekümmert um den andern, ja wider den andern nur auf seinen eignen Nutzen bedacht ist, so müssen sie von außen bestimmt werden, ihre Handlungen so einzurichten, wie sie innerhalb der Gesamtheit nützlich oder doch erträglich sind. Hierzu giebt es zwei Mittel: die Überredung und die Gewalt. Die Überredung ist das Mittel der Kirche und der Schule. Aber leider steht es mit seinem Erfolg bei der Unvernunft der Menschen schlimm genng. Die christliche Kirche ist wie ihrer Lehre: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" seit zweitausend Jahren mit Eifer und Aufopferung am Werke. Aber sie hat bis jetzt wenig erreicht. Jeder, der die Dinge gründlich und ohne Vorurteil betrachtet, wird zugeben, daß mindestens unser gesamtes Gewerbe¬ leben, obgleich es um zahlreiche christliche Tempel angesiedelt ist, noch immer rein heidnischen und keinen christlichen Geist atmet, daß darin das „Liebe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/498>, abgerufen am 25.08.2024.