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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Neue Anthologieen

" dem Verlage dieser Blätter erschien vor drei Jahren eine Ge¬
dichtsammlung, die durch die Eigentümlichkeit ihres Inhalts,
die wissenschaftliche Sorgfalt der Herausgabe und die mit seinem
Geschmack besorgte änßere Ausstattung in gleichem Maße die
Aufmerksamkeit auf sich zog: das unter dem Titel ,,Als der
Großvater die Großmutter nahm" zusammengestellte "Liederbuch für altmodische
Leute," eine mit umfassender Litteraturkenntnis hergestellte Sammlung von
fabeln, Erzählungen, Liedern und Opern- und Singspielnnmmern, an denen
sich unsre Großväter und Großmütter in jungen Jahren erfreut haben, die
aber heute natürlich meist aus den Sammlungen und zum guten Teil auch
aus dein Gedächtnis verschwunden sind. Das Buch erregte die allgemeinste
Freude, erlebte bereits mich Jahresfrist eine zweite Auslage und ist seitdem
Wohl das beliebteste Geschenkbuch geworden, wenn es gilt, den Großeltern, dein
Jnbelhvchzeitspnare oder sonstigen lieben Alten eine kleine litterarische Extra¬
freude zu machen.

Aber die Verlagshandlung blieb bei diesem "altmodischen" Buche nicht
stehen. Es galt nun auch, ein Seitenstück dazu zu schaffen für das jüngere Ge¬
schlecht, eine Auslese des Besten und Schönsten, was die neuere deutsche Lyrik
geschaffen hat. Dergleichen Anthologieen giebt es zwar wie Sand am Meere.
Aber die meisten sind doch uicht viel mehr als bedrucktes Papier, zusammengerafft
ohne Kenntnis und Urteil, in der Regel unter Bevorzugung des süßlichen,
Sentimentalen, vor allem darauf berechnet, jungen Damen von jungen Herren
zum Geschenk gemacht zu werden. Sammlungen für das gebildete deutsche
Haus, Sammlungen, die auch höhern Ansprüchen genügten, gab es kaum eine
oder zwei. So kam denn auch die zweite von der Verlagshandlung heraus¬
gegebene Anthologie, der unter dem Titel "Sang und Klang" erschienene "Haus¬
schatz deutscher Lyrik," einem wirklichen Bedürfnis entgegen. Nicht "aus zwölf
Büchern ein dreizehntes" -- wie dergleichen Sammlungen zu entstehen pflegen--,
sondern ein frisch und neu aus den Quellen geschöpftes Buch, eine Auswahl,
wie sie nur die ausgebreitetste Litteratnrkeuntnis und der reifste und geläutertste
Geschmack schaffen konnte, hatte der Herausgeber geboten.

In diesem Jahre nun schüttet die Verlagshandlung ein ganzes Füllhorn
neuer Bücher vor uus ans, die sich in derselben Richtung bewegen wie die




Neue Anthologieen

» dem Verlage dieser Blätter erschien vor drei Jahren eine Ge¬
dichtsammlung, die durch die Eigentümlichkeit ihres Inhalts,
die wissenschaftliche Sorgfalt der Herausgabe und die mit seinem
Geschmack besorgte änßere Ausstattung in gleichem Maße die
Aufmerksamkeit auf sich zog: das unter dem Titel ,,Als der
Großvater die Großmutter nahm" zusammengestellte „Liederbuch für altmodische
Leute," eine mit umfassender Litteraturkenntnis hergestellte Sammlung von
fabeln, Erzählungen, Liedern und Opern- und Singspielnnmmern, an denen
sich unsre Großväter und Großmütter in jungen Jahren erfreut haben, die
aber heute natürlich meist aus den Sammlungen und zum guten Teil auch
aus dein Gedächtnis verschwunden sind. Das Buch erregte die allgemeinste
Freude, erlebte bereits mich Jahresfrist eine zweite Auslage und ist seitdem
Wohl das beliebteste Geschenkbuch geworden, wenn es gilt, den Großeltern, dein
Jnbelhvchzeitspnare oder sonstigen lieben Alten eine kleine litterarische Extra¬
freude zu machen.

Aber die Verlagshandlung blieb bei diesem „altmodischen" Buche nicht
stehen. Es galt nun auch, ein Seitenstück dazu zu schaffen für das jüngere Ge¬
schlecht, eine Auslese des Besten und Schönsten, was die neuere deutsche Lyrik
geschaffen hat. Dergleichen Anthologieen giebt es zwar wie Sand am Meere.
Aber die meisten sind doch uicht viel mehr als bedrucktes Papier, zusammengerafft
ohne Kenntnis und Urteil, in der Regel unter Bevorzugung des süßlichen,
Sentimentalen, vor allem darauf berechnet, jungen Damen von jungen Herren
zum Geschenk gemacht zu werden. Sammlungen für das gebildete deutsche
Haus, Sammlungen, die auch höhern Ansprüchen genügten, gab es kaum eine
oder zwei. So kam denn auch die zweite von der Verlagshandlung heraus¬
gegebene Anthologie, der unter dem Titel „Sang und Klang" erschienene „Haus¬
schatz deutscher Lyrik," einem wirklichen Bedürfnis entgegen. Nicht „aus zwölf
Büchern ein dreizehntes" — wie dergleichen Sammlungen zu entstehen pflegen—,
sondern ein frisch und neu aus den Quellen geschöpftes Buch, eine Auswahl,
wie sie nur die ausgebreitetste Litteratnrkeuntnis und der reifste und geläutertste
Geschmack schaffen konnte, hatte der Herausgeber geboten.

In diesem Jahre nun schüttet die Verlagshandlung ein ganzes Füllhorn
neuer Bücher vor uus ans, die sich in derselben Richtung bewegen wie die


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[0531] [Abbildung] Neue Anthologieen » dem Verlage dieser Blätter erschien vor drei Jahren eine Ge¬ dichtsammlung, die durch die Eigentümlichkeit ihres Inhalts, die wissenschaftliche Sorgfalt der Herausgabe und die mit seinem Geschmack besorgte änßere Ausstattung in gleichem Maße die Aufmerksamkeit auf sich zog: das unter dem Titel ,,Als der Großvater die Großmutter nahm" zusammengestellte „Liederbuch für altmodische Leute," eine mit umfassender Litteraturkenntnis hergestellte Sammlung von fabeln, Erzählungen, Liedern und Opern- und Singspielnnmmern, an denen sich unsre Großväter und Großmütter in jungen Jahren erfreut haben, die aber heute natürlich meist aus den Sammlungen und zum guten Teil auch aus dein Gedächtnis verschwunden sind. Das Buch erregte die allgemeinste Freude, erlebte bereits mich Jahresfrist eine zweite Auslage und ist seitdem Wohl das beliebteste Geschenkbuch geworden, wenn es gilt, den Großeltern, dein Jnbelhvchzeitspnare oder sonstigen lieben Alten eine kleine litterarische Extra¬ freude zu machen. Aber die Verlagshandlung blieb bei diesem „altmodischen" Buche nicht stehen. Es galt nun auch, ein Seitenstück dazu zu schaffen für das jüngere Ge¬ schlecht, eine Auslese des Besten und Schönsten, was die neuere deutsche Lyrik geschaffen hat. Dergleichen Anthologieen giebt es zwar wie Sand am Meere. Aber die meisten sind doch uicht viel mehr als bedrucktes Papier, zusammengerafft ohne Kenntnis und Urteil, in der Regel unter Bevorzugung des süßlichen, Sentimentalen, vor allem darauf berechnet, jungen Damen von jungen Herren zum Geschenk gemacht zu werden. Sammlungen für das gebildete deutsche Haus, Sammlungen, die auch höhern Ansprüchen genügten, gab es kaum eine oder zwei. So kam denn auch die zweite von der Verlagshandlung heraus¬ gegebene Anthologie, der unter dem Titel „Sang und Klang" erschienene „Haus¬ schatz deutscher Lyrik," einem wirklichen Bedürfnis entgegen. Nicht „aus zwölf Büchern ein dreizehntes" — wie dergleichen Sammlungen zu entstehen pflegen—, sondern ein frisch und neu aus den Quellen geschöpftes Buch, eine Auswahl, wie sie nur die ausgebreitetste Litteratnrkeuntnis und der reifste und geläutertste Geschmack schaffen konnte, hatte der Herausgeber geboten. In diesem Jahre nun schüttet die Verlagshandlung ein ganzes Füllhorn neuer Bücher vor uus ans, die sich in derselben Richtung bewegen wie die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/531>, abgerufen am 23.06.2024.